Kultur der Barmherzigkeit

Niemand kann alleine barmherzig sein. Barmherzigkeit ist auf Andere gewiesen, sie verlangt nach wechselseitiger Gemeinschaft. „Seid barmherzig“ – dieser Aufruf ist eine, ist d i e Keimzelle der Mitmenschlichkeit. Und das ist etwas Anderes als Solidarität.

Mann bettelt
Barmherzigkeit ist kein flüchtiges Gefühl: Obdachloser bettelt auf einer S-Bahnbrücke in Berlin. Foto: epd-bild/Rolf Zoellner

Die Jahreslosung 2021 ist ein Aufruf: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36), fordert Jesu von Nazareth. Im Lukasevangelium ist sein Aufruf zur Barmherzigkeit Teil einer großen öffentlichen Rede. Einer Art Kundgebung. Die Menschen umdrängen ihn. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Gründen:

Heilung und Gesundheit

Weil sie neugierig sind, weil die anderen auch hingehen, weil sie gehört haben, dass dort ein Heiler ist, der noch heilt, wo andere längst aufgegeben haben. „Denn es ging eine Kraft von ihm aus“, schreibt Lukas, „und er heilte sie alle.“ Sie kommen, um das mit eigenen Augen zu sehen. Es gibt eine Sehnsucht nach Heilung bei vielen Menschen – gerade in diesen Tagen. Heilung ist umfassender als Gesundheit.

Auch darum beginnt der Heiler zu reden. Er spricht zu allen, die ihn hören können. Zu Kindern und Alten, zu Männern und Frauen, zu Gebildeten und Einfältigen, zu Armen und nicht so Armen. Er spricht über Feindesliebe, über Nächstenliebe und über Barmherzigkeit auch gegenüber den Unsympathen.

Barmherzigkeit fällt durch

Zum Jahreswechsel stellt das Losungswort uns mit in diese Menge. Wir lauschen und versuchen zu erfassen, was wir hören: „Seid barmherzig“, sagt Jesus, und sein Wort fällt in unsere Zeit. Aber machen wir uns nichts vor: Es fällt durch.

Barmherzigkeit ist in unserem Land fast ein Fremdwort geworden. Es irrt wie eine Heimatlose durch aufgeheizte Diskussionen in Talkshows,  Innenstädten, auf Schulhöfen, in Parlamenten und Videokonferenzen. Zuhause am ehesten noch in den geschützten Reservaten der Religion:
Gott ist barmherzig, bekennen Judentum, Christentum und Islam. Aber: Wer ist schon „Gott“ für die Vielen in einer sich säkularisierenden Gesellschaft?

Ressource Barmherzigkeit

Mit Solidarität wissen manche noch etwas anzufangen, aber mit einem Aufruf zur Barmherzigkeit? Die Weckrufe unserer Tage klingen anders: „Leave no one behind!“, „Black lives matter!“, „Me too!“-  Dass „Seid barmherzig!“ viral gehen könnte, ist eher unwahrscheinlich. Auch nicht, wenn man „gut anglistizisch“: „Mercy matters!“ rufen würde.

Und trotzdem: Barmherzigkeit ist eine Ressource, auf die ich nicht verzichten möchte. Eine Fähigkeit, die Menschen erst zu Menschen macht. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Wenn wir Menschen bleiben wollen, braucht es vielfältige Kulturen der Barmherzigkeit. Wo sie fehlen, wird es schnell fürchterlich. Das gilt in den Flüchtlingslagern an den Rändern Europas, in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, die immer stärker im ökonomischen Takt funktionieren müssen, und in Familien, denen die nachsichtige Liebe abhandengekommen ist.

Unbarmherziges Kalkül

Ohne Barmherzigkeit verschwindet der Menschheit der mitfühlende Sinn für die Not der anderen. Und Herzlosigkeit zerstört auf Dauer jedes Gemeinwesen. Eine Haltung der kühlen Rationalität allein gegenüber dem Leid der anderen, auch dem der Fremden, vergiftet jedes Miteinander. Ein Virus des unbarmherzigen Kalküls untergräbt das Mitgefühl und den humanen Zusammenhalt auf unserem Planeten, auf dem wir doch fast überall selbst Fremde sind.

Eine Haltung der Barmherzigkeit ist privat u n d politisch. „Seid barmherzig“, sagt Jesus, und zwar eben nicht nur zu den Menschen, die ihr kennt und liebt, sondern zu allen Menschen. Weil sie Menschen sind wie Du. Gottes Kinder, bekennt die Christenheit. Tretet ein für eine Kultur der Barmherzigkeit und sorgt füreinander. Werdet Kümmerer. Übt euch in Barmherzigkeit gegenüber allem, was lebt.

Kultur der Barmherzigkeit – weltweit

Eine weltweite Kultur der Barmherzigkeit meint mehr als spontanes Mitleid oder Mitgefühl. Auch in den Texten der Bibel geht es nicht um Gefühle. Mitgefühl kann als Einstieg in eine Kultur der Barmherzigkeit wirken. Aber Gefühle allein sind ein viel zu unsicherer Grund, um Unterstützung für Arme, Schutzlose, Fremde, für Menschen in Not zu organisieren oder um die Natur, das Klima zu schützen. Gefühle nutzen sich schnell ab. Da ist schon die Bibel sehr realistisch.

Barmherzigkeit ist biblisch-theologisch zuallererst eine Eigenschaft Gottes. Sie meint die „Großherzigkeit“ oder „Weitherzigkeit“ Gottes. In vielen biblischen Texten beschreibt Barmherzigkeit auch die Haltung Gottes zum Volk Israel und zu den Verlorenen. Gott hört ihr Schreien. Gott will, dass sie gefunden und gerettet werden.

Gottes Großherzigkeit

Die Groß- und Weitherzigkeit Gottes sucht tagtäglich nach Entsprechung unter uns Menschen. Und die Weite des Himmels erinnert alle Erdenbewohner*innen mit ihrem beschränkten Horizont daran, groß- und weitherzig zu leben: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Eine andere Passage des Lukasevangeliums, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37), ist zum Inbegriff barmherzigen Handelns geworden: Der fremde Samariter lässt sich anrühren von der Not und dem Leid eines ihm unbekannten Menschen und wird Not-wendend aktiv. Er lässt sich stören.

„Es jammert ihn“, übersetzt Luther. Wer am Boden liegt, braucht Menschen, die sich stören und anrühren lassen, um wieder auf die Beine zu kommen. Wenn sie dann auch über Know-how und Geld verfügen, wie der Samariter, ist das von Vorteil.

Im Körper verankert

Die Formulierung „es jammert ihn“ kehrt im Erbarmen des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32) wieder. Das griechische Wort „splagchnizomai“ versteht die Eingeweide als Sitz des Mitgefühls: „Es dreht ihm den Magen um.“ Erbarmen ist eine Haltung, eine Handlung, die aus diesem echten Bauchgefühl entsteht.

Das gleiche Wort wird auch oft benutzt, um Jesu Reaktion zu beschreiben, wenn er kranke und hungrige Menschen sieht (Markus 6,34; 8,4) und heilt. Barmherzigkeit meint biblisch-theologisch also eine sogar im Körper tief verankerte Haltung.

Eine barmherzige Person sieht immer wieder hin. Sie lässt sich anrühren, berühren und öffnet ihr Herz einem konkreten Menschen  in einer konkreten Notlage. So wird dieser Mensch zum Nächsten.

Barmherzig ist, diesem Menschen aus seiner, ihrer Not herauszuhelfen. Es ist ein Glück, einen barmherzigen Kollegen in seinem Team zu wissen, und eine barmherzige Ratgeberin ist ein Schatz.

Unbarmherziger Alltag

Und doch, jeder Wohnungslose vor einem Supermarkt weiß: Fast jedes Herz kann unbarmherzig sein. Denn unsere Alltagsgeschwindigkeit und eine Kultur der Barmherzigkeit vertragen sich nur schlecht. An wie vielen Menschen, auf dem Lebensweg Gestürzten, ausgeplündert, bloßgestellt, unfähig aufzustehen, haste ich jeden Tag vorbei?

Wie viele vermeintliche Fehler der anderen geißle ich mit gutem Recht? Mit medialer Eile haste ich weiter: Tagesschau, Facebook, Youtube. Im Mittelmeer ertrinken Menschen. Die Kinderarmut in Deutschland nimmt zu. Corona schreit aus allen Nachrichten. Scrollen, sehen und wegsehen. Ohnmacht spüren, Leid wegklicken, weitermachen.

Von Dreien gehen zwei vorbei, erzählt Lukas sehr realistisch in seinem Gleichnis. Aber wer sich nicht unterbrechen lässt, wer nie innehält – bei seinem klar vorgetragenen Gedankengang, bei ihrer kühl argumentierenden realpolitischen Perspektive; wem es den Magen nicht mehr umdreht im Angesicht des Leidens, dem droht der „Cool-out“. Der Kältetod. Erkalten mitten im Leben.

Achtsamkeit und Barmherzigkeit

Ohne Achtsamkeit, ohne eine Kultur der Unterbrechung, des Sich-Selbst- Anhaltens gibt es keine Kultur der Barmherzigkeit.

Gott segne uns mit einem achtsamen Jahr des Hinsehens, der Hinwendung und der Barmherzigkeit – auch mit uns selbst.