Freie Wohlfahrt mit allen

Wir sind viele. Das lässt mich hoffen. “Wir”, das sind in diesem Fall die mehr als vier Millionen Hauptamtlichen und freiwillig Engagierten, die in den Einrichtungen und Diensten, Pflegeheimen, Krankenhäusern und Beratungsstellen der Freien Wohlfahrt Tag und Nacht für das Gemeinwohl arbeiten. Um dieses engmaschige Netz aus vielstimmiger Solidarität und Menschenfreundlichkeit, das sie in unserer Zivilgesellschaft knüpfen, beneidet uns die Welt. Nicht nur zu Zeiten der Pandemie.

Symbolbild BAGFW
Für den Sozialstaat: Das gemeinsame Anliegen der sechs Spitzenverbände unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Foto: Diakonie Deutschland

Und “wir” von der Freien Wohlfahrt sind ja noch längst nicht alle in unserem Land, die an diesem einzigartigen sozialen Netz knüpfen. Es gibt viel mehr engagierte Akteure und hilfreiche Strukturen. Mit vielen kooperieren “wir” vor Ort. Zum Glück.

Produktion von Gemeinwohl

Ohne die Freie Wohlfahrt wäre der deutsche Sozialstaat aber nur eine graue Theorie. Ob unter dem Dach von Arbeiterwohlfahrt, Deutschem Roten Kreuz oder der Caritas, ob bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, beim Paritätischen Wohlfahrtsverband oder der Diakonie: Bei aller gewollten Unterschiedlichkeit ziehen wir alle am selben Strang: Wir “produzieren” Gemeinwohl.

Im Kern geht es immer darum, Teilhabe für alle Menschen in unseren Gemeinwesen zu ermöglichen. Denn, ob alt oder jung, die Freie Wohlfahrt behält die Interessen der Schwachen im Blick. So trägt sie ihren Teil zur Lösung der großen sozialen, gesundheits- und pflegepolitischen Fragen bei, die die Gesellschaft gerade beschäftigen.

Zum Jahreswechsel hat die Diakonie Deutschland nun turnusmäßig die Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), des Dachverbandes der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, übernommen.

In den kommenden zwei Jahren wird darum das Bemühen, unseren Sozialstaat zu sichern und weiterzuentwickeln, in meiner Arbeit als Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft einen noch größeren Raum einnehmen. Und da gibt es viel zu tun.

Vergrößerungsglas Corona

Seit Monaten schon führt uns die Coronakrise vor Augen, wie wichtig eine funktionierende Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur für alle Menschen in diesem Land ist. Und auch die Schwächen dieses Systems werden durch die Pandemie wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar.

Ganz oben auf der sozial- und gesundheitspolitischen Agenda steht nun die Reform der Pflegeversicherung. Dem Applaus von Balkonen und vielen preiswerten öffentlichen Dankeshymnen müssen endlich Taten folgen, die den Personalnotstand in den Pflegeberufen nachhaltig beseitigen und die Personalschlüssel in den stationären Einrichtungen verbessern helfen. Und zwar ohne dass die Eigenanteile der Betroffenen oder die Ausgaben der Kommunen weiter ins Unbezahlbare steigen.

Und genauso müssen die Bedingungen in der häuslichen Pflege und für die vielen pflegenden Angehörigen im Lande endlich verbessert werden. Auf pflegende Angehörige darf nicht länger ein Armutsrisiko im Alter warten.

Frage des Geldes

Das ist nicht nur, aber auch und ganz entscheidend, eine Frage der Finanzierung. Es ist zuletzt aber eine Frage an uns alle: Was ist jeder und jedem von uns ein selbstbestimmtes Leben im Alter wert und welchen Beitrag wollen wir dazu leisten?

In einer älter werdenden Gesellschaft wird eine orientierende Antwort auf diese brennend aktuelle Frage durch die Politik einen der sozial- und gesundheitspolitischen Schwerpunkte der nächsten Bundesregierung bilden müssen. Zu lange schon warten wir mit vielen Pflegenden und vielen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen auf die Umsetzung der auf dem Tisch liegenden Vorschläge.

Aber nicht nur im Bereich der Pflege legt die Pandemie die Herausforderungen offen. Wir müssen die sozialen Strukturen in unserer sozial ungleicher werdenden Gesellschaft auf der kommunalen Ebene nachhaltig absichern, wenn wir Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Menschen in diesem Land gewährleisten wollen.

Von den Schuldnerberatungsstellen über die Obdachloseneinrichtungen, die Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen, über Tages- und Stadtteiltreffs bis hin zu den Pflegeeinrichtungen. Darum benötigen alle Kommunen eine verlässlichere Finanzierung genauso wie die Freie Wohlfahrt auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene eine verlässlichere Finanzierung braucht.

Gemeinwohl 4.0

Wir wollen diese Diskussion öffentlich führen und zusammen Lösungen finden, wie wir diese Strukturen, die dem Gemeinwohl und damit auch einer weiterhin breiten Zustimmung zu einem sozialen Rechtsstaat dienen, nachhaltig und vorausschauend sichern.

Wie organisieren wir zukünftig Gemeinwohl – auch unabhängig vom Coronavirus? Ein “Gemeinwohl 4.0” in einer zugleich digitaler, vielfältiger, älter und sozial ungleicher werdenden Gesellschaft, in der sich jetzt schon zu viele als Verlierer sehen?

Wie befördern wir einen tragfähigen Gemeinsinn in einer sich so transformierenden Gesellschaft? Und zwar so, dass das von möglichst Vielen nicht als ein notwendiges Übel, sondern als eine Voraussetzung für das Funktionieren unserer sozialen Marktwirtschaft verstanden und entsprechend auch politisch und finanziell abgesichert wird? Und zwar flächendeckend.

Gleichwertige Lebensverhältnisse

Eine zukunftsfähige gemeinsame neue Antwort auf diese Fragen halten wir in der Freien Wohlfahrt für eine Voraussetzung für das, was das Grundgesetz “gleichwertige Lebensverhältnisse” nennt. Unabhängig davon, wo er oder sie lebt: Jede Bundesbürgerin und jeder Bundesbürger hat einen Anspruch auf einen Mindeststandard an Versorgung und Teilhabe, der allen zu gewährleisten ist.

Das ist ein, vielleicht sogar d a s Zukunftsthema angesichts der digitalen Transformation, das wir in den Verbänden der Freien Wohlfahrt auf der Agenda halten und gemeinsam mit Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft bearbeiten werden. Auch das verstehen wir als unseren Auftrag.

Die Stichworte, die sich mit der digitalen Transformation verbinden, lauten: wachsende kulturelle Vielfalt, Veränderung der Bildungsprozesse und der Arbeitswelt, Globalisierung, demografischer Wandel, soziale Ungleichheit und Klimawandel. Die Welt wie wir sie kannten, auch die Welt der Bundesrepublik, verändert sich vor unseren Augen nun schnell. Vieles verschwindet, neue Antworten auf neue Fragen wollen gestaltet werden.

Zukunft des Sozialstaats

In diesem Superwahljahr 2021  mit einer Bundestagswahl, sechs Landtags- und diversen Kommunalwahlen unter Corona-Bedingungen werden wir auch diese sozialpolitischen Forderungen und Fragen wirksam platzieren. Niemand kann in den kommenden Jahren Regierungsverantwortung tragen, der nicht glaubwürdige Konzepte für die Finanzierung der Pflege und die Zukunft des Sozialstaats mitbringt.

Vieles verändert sich grundlegend, was aber bleibt, sind die unterschiedlichen Menschen mit ihren Bedürfnissen, mit ihren Sehnsüchten, Stärken, mit ihrem Leistungs- und Mitgestaltungswillen und Schwächen, ihrer Verletzlichkeit und Endlichkeit und ihrem Wunsch und ihrem Recht, in jeder Lebensphase am gemeinsamen Leben teilhaben zu können.

Der Mensch im Mittelpunkt

Um diese Menschen und ihr soziales, aber auch ökologisches Umfeld, muss es in der Politik gehen. Daran wird Freie Wohlfahrt immer wieder erinnern. Daran wollen wir gerne mitwirken: am Wohle aller orientiert und ohne finanzielle Eigeninteressen. Denn das bedeutet Gemeinnützigkeit.

Wir haben es in der Freien Wohlfahrt oft – aber eben nicht nur – mit den Schwächsten zu tun. Wir sind für alle da. Denn jeder Mensch kennt in seiner Biographie Zeiten der Schwäche und ist dann auf verlässliche, professionelle und zugewandte Begleitung angewiesen, wie sie unter dem Dach der Freien Wohlfahrt zuverlässig angeboten wird.

Freie Wohlfahrt mit allen

So werden wir weiterhin unseren Beitrag dazu leisten können, dass alle Menschen in diesem Land die annähernd gleichen Teilhabechancen haben – unabhängig von ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben, ihrem Geschlecht, ihrem Portemonnaie, ihrem Alter oder ihrer Gesundheit. Alle sollen die Chance haben, das Gemeinwesen mitzugestalten, gleichgültig, wo sie leben und was sie für eine (Herkunfts-)Geschichte haben.

Für die komplexen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft brauchen wir in jedem Fall die Klugheit, die Handlungskraft und die Empathie der vielen verschiedenen Perspektiven, mit denen wir in unserer Bevölkerung beschenkt sind.

Wir sind viele. Wir sind verschieden. Das hat Potenzial – und genau damit machen wir in der Freien Wohlfahrt die besten, vielfältigen Erfahrungen.

 

 

Ein Gedanke zu „Freie Wohlfahrt mit allen“

  1. Sehr geehrter Herr Lilie,
    Sie erwähnen quasi am Rande, dass es auch noch andere Hilfebereiche neben der Pflege gibt. In der öffentlichen Wahrnehmung betrifft die Corona-Krise nur die Pflegekräfte, Kitas und Schulen. Jugendhilfe und Eingliederungshilfe werden nicht wahrgenommen, weder dass die Kolleg*innen dort auch tagtäglich ihre Gesundheit riskieren, noch dass diese Bereiche ebenfalls unter Fachkräftemangel und einer nicht ausreichenden Finanzierung leiden. Wo Mitarbeitende der Kostenträger im Home-office sitzen, wird erwartet, dass die Kolleg*innen weiterhin in die Familien gehen. Notwendige Hilfeplanungen werden mit dem Hinweis auf die Pandemie abgesagt.
    Da diese Arbeitsbereiche keine öffentliche Lobby haben (wen interessiert es schon, wenn Menschen mit Behinderung oder schwierige Kinder und Jugendliche nicht vernünftig betreut werden…) wäre es umso wünschenswerter, wenn zumindest die Diakonie, in vertretender Person Sie, auch diese Kolleg*innen mal in der Öffentlichkeit erwähnt und würdigt und Interesse für die Arbeitssituation der Mehrheit ihrer Mitarbeitenden zeigt.
    Mit herzlichen Grüßen
    Claudia Hoffmann

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