Zeitenwende

Das Wort  „Zeitenwende“ hat gute Chancen zum Wort des Jahres 2022 zu werden. Wie grotesk und absurd ist es, dass im 21. Jahrhundert ein rückwärtsgewandter Mann in Macho-Manier an einem absurd langen Tisch einen brutalen Angriffskrieg gegen ein Volk führt, während ihm in seinem eigenen Land die ökologischen Probleme über den Kopf wachsen?! Die Permafrostböden tauen mit unabsehbaren Folgen und riesige Binnenseen trocknen aus.

Die Zeitenwende, die wir durchleben, markiert nicht nur eine grundlegende Veränderung der Sicherheitsordnung in der Welt, sie steht auch für die Notwendigkeit, die sozial-ökologische Transformation unseres Lebens und Wirtschaftens nun endlich entscheidend voran zu bringen. Dafür sind die vielen unterschiedlichen Unternehmen der Sozialwirtschaft so etwas wie geborene Partner.

Eingeüstetes Haus, das nachhaltig gebaut wird
Klimaschutz: Die Zeitenwende braucht ein neues Denken, und nachhaltiges Bauen in der Sozialwirtschaft braucht eine gesicherte Refinanzierung. Bild: Diakonie/Verena Müller

Um die damit verbundenen Chancen und selbstverständlich um die damit verbundenen Herausforderungen geht es bei der 2. Strategietagung Nachhaltigkeit, die gestern und heute in Berlin stattfindet: „Wege zur Klimaneutralität – von der Vision zur Umsetzung“. Eine gemeinsame Initiative von Diakonie Deutschland, dem Verband der diakonischen Dienstgeber und der Bank für Kirche und Diakonie.

Umsetzung der Klimaziele

Viele diakonische Unternehmen haben längst mit dieser Umsetzung begonnen. Sie bilden in BIOLAND-zertifizierten Betrieben langzeiterkrankte junge Menschen mit besten Vermittlungschancen in den allgemeinen Arbeitsmarkt aus, sie setzen mit großem Erfolg KI zur Vermeidung von Lebensmittelüberschüssen ein oder produzieren nachhaltige Dienstkleidung, von denen die Mitarbeitenden schwärmen.

Längst geht es nicht mehr nur um den inzwischen selbstverständlichen fair gehandelten Kaffee und Tee. Immer mehr diakonische Unternehmen verstehen, dass die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO, die Sustainable Development Goals,  auch für sie eine passgenaue Vision für eine neue Unternehmensausrichtung formulieren.  Kluge und innovative Unternehmer:innen, wie etwa  VAUDE, setzen sie längst mit großem Markterfolg um – und gewinnen damit viele neue Mitarbeitende wie Kunden. Und auch die Bewohner:innen diakonischer Einrichtungen und unsere Mitarbeitenden sind gerne Teil von guten Zukunfts-Geschichten.

Wer Nachhaltigkeit in der Sozialwirtschaft voranbringen will, muss aber auch über Geld sprechen. Diakonische Unternehmen werden Milliardenbeträge investieren, um etwa Pflegeheime und Kindergärten, Krankenhäuser und Werkstätten für Menschen mit Behinderung klimaneutral zu gestalten. Viele haben damit auch schon angefangen.

Frage der Finanzierung

Aber wie es weitergehen wird, ist nicht zuletzt eine Frage der Finanzierung. Und wie unsere Partner in der Bundespolitik diese Frage beantworten werden, ist spielentscheidend. Denn woher soll ein durchschnittliches Pflegeheim beispielsweise die rund 1,8 Millionen Euro  nehmen, die eine energieeffiziente Sanierung mindestens kostet?

Um alle diese Zukunftsfragen geht es bei der 2. Strategietagung Nachhaltigkeit: Es geht um Wissenstransfer, Vernetzung und Erfahrungsaustausch. Und um ein starkes Signal in Richtung Politik.

Es sind herausfordernde Zeiten für soziale Unternehmer: Fachkräftemangel, Pflegenotstand, Corona, Krieg in der Ukraine, steigende Energiepreise. Der Krisenmodus ist nahezu alltäglich geworden. Und dazu kommen die Anforderungen des Klimaschutzes. Diakonie in der Zeitenwende.

Pflicht zur Nachhaltigkeit

Wir müssen unseren CO2-Ausstoß reduzieren, die Europäische Union (EU) und die Bundesregierung geben mit guten Gründen die Richtung vor. Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung zielt darauf, bis 2045 klimaneutral zu werden. Die EU will dies bis 2050 schaffen. Und vor dem Hintergrund der Ukrainekrise wird derzeit überdeutlich, dass es nicht nur ökologische Gründe gibt, sich von fossilen Brennstoffen unabhängig zu machen. Der Ausbau erneuerbarer Energien gewinnt auch in unseren Wirkungskreisen einen hohen Stellenwert.

Wie gesagt, viele diakonische Unternehmen sind schon längst unterwegs auf dem Weg der sozial-ökologischen Wende. Sei es mit eigenen Blockheizkraftwerken, Photovoltaikanlagen, energetischen Sanierungen, biodiversitärer Umgestaltung der Außenflächen gemeinsam mit den Bewohner:innen; mit nachhaltig und fair produzierter Berufskleidung, Vermeidung von Lebensmittelverschwendung oder der Umstellung von Fuhrparks auf Elektromobilität.

Viele tun dies systematisch mit Hilfe eines Nachhaltigkeits-Managementsystems, wie zum Beispiel EMASplus oder der Gemeinwohlökonomie. Und auch das ist wichtig: Denn ab 2024 wird es für Organisationen ab 250 Mitarbeitenden verpflichtend werden, über ihre Nachhaltigkeitsleistung zu berichten. Hier kann der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) orientieren.

Momentan erarbeiten wir darum gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband und dem Rat für Nachhaltige Entwicklung einen Branchenleitfaden zum DNK für die freie Wohlfahrtspflege. Im Sommer soll sie veröffentlicht werden.

Kurz: Diakonische Unternehmen sind bereits unterwegs und gehen in Vorleistung. Doch um diesen Weg weiter gehen zu können, um uns dauerhaft nachhaltig engagieren zu können, brauchen wir breite und kohärente Unterstützung aus der Politik. Nicht nur aus dem Bundesumweltministerium, wie uns Staatssekretär Christian Kühn gestern erfreulicherweise in Aussicht gestellt hat.

Billig vor nachhaltig?

Die Sozialgesetzbücher folgen derzeit noch der schlichten Logik, „billig geht vor nachhaltig“. Mit absurden Folgen. So sind in der Altenhilfe hunderte Millionen in den geförderten Umbau von Mehrbettzimmern in Einzelzimmer geflossen, ohne damit direkt auch die Chancen für eine energetische Sanierung der Gebäude zu verbinden. Obwohl man doch weiß, dass Gebäude rund 40 Prozent der Emissionen weltweit verursachen.

Aber öffentliche Mittel werden in der Sozialwirtschaft bislang nur nach den Grundprinzipien Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit vergeben. Nachhaltiges Engagement kommt in dieser Rechnung (noch) nicht vor und das bremst nicht nur die Diakonie auf dem Weg zur Erreichung der Klimaziele aus.

Die ministeriellen Tortenstück-Zuständigkeiten müssen nun endlich durch eine kohärente Förderpolitik ersetzt werden. Gerade im Bereich „sozialer Immobilien“ muss es deutlich attraktiver werden, klimafreundlich zu investieren. Bei der großen Menge Sozialimmobilien im Land ist das Einsparpotenzial an CO2 gar nicht zu überschätzen.

Gestaltungsmöglichkeiten

Wir haben ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten, wenn es gelingt, soziale, ökonomische und ökologische Vernunft strategisch zusammenwirken zu lassen. Ihr Zusammenspiel birgt einen Hebel mit großer Wirkkraft. Und damit er Wirkung entfalten kann, braucht es neben den politischen Weichenstellungen verlässliche Rahmenbedingungen und Finanzierungsmodelle. Aber auch ressortübergreifende Absprachen im Bund, auf Landesebene und auf lokaler Ebene wären ein guter Anfang, damit der Klimaschutz nicht an den Fördervorgaben für das Sozialdezernat scheitert.

Hier wartet die politische Gestaltungsaufgabe einer kohärenten und nachhaltigen Sozialpolitik. Neben Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit muss Nachhaltigkeit als Grundprinzip in die Sozialgesetzbücher aufgenommen werden. Denn auch im Bereich der Beschaffung reichen die Regelsätze bisher häufig nicht aus, um nachhaltige, klimaschonende Alternativen zu refinanzieren. Das gilt auch für soziale und pflegerische Dienstleistungen, die von öffentlichen Stellen ausgeschrieben werden.

Kurz: Wir brauchen eine Klima-Investitionsoffensive für die Sozialwirtschaft. Zusätzlich zur Neuregelung in den Sozialgesetzbüchern könnten außerdem kurzfristig Förderprogramme aufgelegt oder ausgebaut werden, die berücksichtigen, dass gemeinnützige Unternehmen keine hohen Eigenanteile leisten können.

Die Diakonie will und wird ihren Teil zum Klimaschutz leisten. Dahinter will niemand mehr zurück. Aber aufgrund der Gemeinnützigkeit können ihre Unternehmen die erforderlichen Kosten für die entsprechende Gebäudesanierung nicht komplett selbst erwirtschaften.

Diakonie – innovativ

Leben, arbeiten und gestalten in der Zeitenwende. Das wirft viele neue Fragen auf, die neue Antworten auch der Politik erfordern. Das bietet aber auch viele neue Chancen für innovative diakonische Unternehmerpersönlichkeiten, die sich erinnern, dass die Generation der Gründermütter und -väter unserer modernen Diakonie vor fast 175 Jahren auf eine andere Zeitenwende mit dramatischen Herausforderungen und mit unvorstellbarem Elend so weitsichtig geantwortet haben, dass wir bis heute von ihren Antworten profitieren.