Wie entkommen Menschen mit schweren Beeinträchtigungen dem Grauen des Krieges? Montag ist Weltflüchtlingstag. Wieder werden schreckliche Zahlen veröffentlicht: Über 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Und hinter jeder Zahl steht ein menschliches Schicksal.
Ich habe seit einer Woche diese eindrucksvolle Gruppe junger Menschen aus der Ukraine vor mir: 111 Kinder und Jugendliche mit zum Teil schweren Behinderungen, ihre Betreuerinnen und deren Kinder.
Seit Anfang März leben sie nun schon in Bielefeld-Bethel, in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen. Ihre Gesichter, ihre Geschichte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf: Heute, wenn ich bei der Diakonie Himmelsthür in Hildesheim darüber sprechen soll, wie „wir“ in Zukunft miteinander leben wollen. Oder morgen, am Tag der Offenen Gesellschaft, der unter dem Motto „Platz machen!“ auch den Zusammenhang von Barrierefreiheit und Willkommenskultur thematisieren wird.
Wer gehört dazu?
Unter dem Motto „Platz machen!“ lädt die Offene Gesellschaft wieder zu Tischgemeinschaften in der Nachbarschaft ein. Dabei wollen wir mit Bekannten und Unbekannten auch darüber ins Gespräch zu kommen, welche konkreten Gesichter, welche Lebensgeschichten wir im Sinn haben, wenn wir über unser Miteinander in diesem Land nachdenken.
Das ist ein wichtiger Denk-Schritt auf dem Weg, verlässlicher sicher zu stellen, dass die offene, vielfältige und freie Gesellschaft nicht zu einem exklusiven Projekt der Gesunden, gut Ausgebildeten, Eloquenten und Durchsetzungsstarken degeneriert.
Eine offene Gesellschaft ist nur dann offen, wenn es dieser Gesellschaft gelingt, Strukturen zu schaffen und Verhaltensweisen zu etablieren, die gerechte Mitsprache und faire Chancen für alle Begabten und Begrenzten ermöglichen. Erst recht für geflüchtete Menschen mit Behinderungen.
Flucht nach Bethel
Die Flucht nach Bethel hatte für Wovan und die anderen Kinder und Jugendlichen bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn in der Nähe von Kiew begonnen. Wegen drohender Angriffe muss die zwischen einer Kaserne und einem Flughafen liegende Einrichtung, in der über hundert zum Teil schwerstbehinderten Kinder und Jugendlichen lebten, innerhalb von zwei Stunden geräumt werden.
Gemeinsam mit ihren Betreuerinnen beginnt für die ohnehin Traumatisierten und nun plötzlich noch Obdach- und Heimatlosen eine Odyssee unter schwierigsten Bedingungen: Die Älteren tragen im Wortsinn die Kleineren, die nicht gehen können.
Ohne ihr Ziel zu kennen, irgendeinen sicheren Ort, geht ihre Flucht nach Westen. Über sehr improvisierte und wenig vorbereitete Zwischenstationen in Polen werden sie eine neue Heimat in Ostwestfalen finden. Aber das wissen sie ja noch nicht. Welche Gedanken, Ängste und anderen Gefühle mögen diesen jungen, angewiesenen Menschen und ihren treuen Betreuerinnen durch Mark und Bein gegangen sein, auf dieser Reise ins Ungewisse? Als sie in Bethel ankommen, waren alle – so wird uns berichtet – an Leib und Seele völlig erschöpft.
Sicherer Ort
Was für ein Segen, dass es kompetente und handlungsfähige Träger wie die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gibt! Zwei Häuser, eigentlich schon für andere Zwecke vorgesehen und leergeräumt, werden mit Spenden von Mitarbeitenden und aus der Bevölkerung im Eiltempo möbliert.
Spontan erklären sich Mitarbeitende zu Sonderschichten bereit, und die Häuser „Mamre“ und „Ebenezer“ werden für die völlig verunsicherte und verängstigte ukrainische Kinder und Jugendliche mit zum Teil schweren Behinderungen und ihren Betreuerinnen zu einem improvisierten Zuhause. Zu einem sicheren Ort.
So viele Hindernisse werden mit dieser wunderbaren Mischung aus Menschenfreundlichkeit und beeindruckender Professionalität einfach übersprungen. Am Eingang heißt ein in den ukrainischen Farben gemaltes zweisprachiges Schild alle willkommen.
Humanität als Risiko
Und das alles aus eigenen Kräften und auf eigenes Risiko! Undenkbar ohne das Engagement der Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen. Gibt es ein überzeugenderes und schöneres Bild für eine offene, der Humanität verpflichtete Gesellschaft?
Bis heute ist noch nicht abschließend geklärt, wer welche Kosten für diesen großartigen Einsatz übernehmen wird. Obwohl die bundespolitischen Vorrausetzungen seit dem 1. Juni geschaffen sind, nämlich die Berechtigung von ukrainischen Geflüchteten zum Leistungsbezug aus der Eingliederungshilfe.
Den Abstimmungsprozess mit den für die Kosten zuständigen Behörden kennzeichnet leider eine grundsätzlich andere Dynamik und Improvisationsfähigkeit als diese „Platz-da“-Aktion der beeindruckenden Überzeugungstäterinnen in Bethel. Im dritten Coronajahr wünschte ich mir in solchen herausfordernden Situationen deutlich mehr „Ansteckungsgefahr“ .
Herausfordernd für alle
Und bei aller bewundernswerten Initiative: Es braucht auch hier einen langen Atem. Denn die Situation bleibt ja auch herausfordernd und schwierig – für alle Beteiligten: für die mitgeflohene ukrainische Erzieherin, die sich gleichzeitig um ihren neunjährigen Sohn kümmern muss, der nun zur Schule geht und Deutsch lernt.
Für die deutschen und ukrainischen Fachkräften, die miteinander tagtäglich Sprachhürden und kulturelle Barrieren überwinden, um die unterschiedlichen personellen und inhaltlichen Konzepte in der Eingliederungshilfe in eine für alle Seiten tragfähige Balance bringen.
Und natürlich für die geistig behinderten Kinder und Jugendlichen, die sich in der fremd-freundlichen Umgebung zurechtfinden lernen müssen.
Dazu kommt, dass sich auch hier in den zurückliegenden Monaten wieder gezeigt hat, worunter alle schon im „normalen“ Alltag leiden: Es gibt chronisch zu wenig Fachpersonal und zu wenig Ehrenamtliche, um die ankommenden Menschen zu betreuen.
Heiteres Engagement
Sehr berührt und beindruckt hat mich das heitere Engagement der ukrainischen Betreuerinnen. Wie selbstverständlich sie an der Seite ihrer Schützlinge geblieben sind und sich mit ihnen der Flucht ausgesetzt. Viele haben eigene Familienangehörige zurücklassen müssen. Partner und Brüder kämpfen als Soldaten an der Front.
Und für sie zeichnet sich eine Zukunft in Deutschland ab: Die neunzehn Frauen sind inzwischen bei den v. Bodelschwinghschen Stiftungen angestellt. Deutsch zu lernen hat hohe Priorität. Einige konnten ihre Kinder nachholen.
Und auch die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung gehen inzwischen in die (Förder-)Schule oder haben eine Arbeit in einer Werkstatt gefunden. Zukunfts- und Lebensräume für neue Menschen, neue Ideen – in Bielefeld, das es eben doch gibt. Gott sei Dank.
So geht Offene Gesellschaft
Gelebte Inklusion und berührendes Engagement von Vielen, so geht Offene Gesellschaft. Es braucht dazu Menschen, die das wollen. Zum Schluss meines Besuchs haben wir noch alle zusammen getanzt. Wovan ist der Karaoke-Star dieser wunderbaren Gruppe, und jeden Freitagnachmittag ist Disco im Garten hinter dem Haus Ebenezer.
Vielleicht stellen Sie morgen spontan einen Tisch und ein paar Stühle auf den Bürgersteig, kochen eine Kanne Kaffee und laden die Vorübergehenden zum Miteinanderreden ein. Über Ihre Träume und Erlebnisse von einer humanen und offenen Gesellschaft. Und vielleicht sprechen Sie miteinander auch über die Frage, welche Menschen und welche Träume unbedingt mehr Platz brauchen in diesem Land?
Last-Minute-Infos und Material zum Download gibt es hier.