Wenig Idyll, wenig Natur, dafür viel Asphalt, dichte Wohnbebauung (obwohl einige Blöcke abgerissen wurden), viel sanierte Platte mit teilweise liebevoll dekorierten Balkonen und sehr viel außerordentliches Engagement. Das ist meine Erinnerung an Parchim.
Die schmucke mecklenburgische Kreisstadt, 40 Kilometer südöstlich von Schwerin, die in ihrem Imagefilm ausschließlich mit der schönen Natur und der pittoresken nachwendesanierten Altstadt am Wasser wirbt, war die letzte Station meiner Sommerreise. Ich bin allerdings weder am See noch durch die Innenstadt flaniert, sondern habe den Kinder-, Jugend- und Familientreff des Diakoniewerks Kloster Dobbertin in der dortigen Weststadt besucht. Auch ein besonderer Ort.
Problemviertel mit Potenzial
Problemviertel, sagen die einen, Ghetto, die anderen. Und eine ehemalige Bewohnerin sagt, dass es sehr viel besser geworden sei. Sie möchte dieses Schlechtreden nicht mehr hören. Fest steht: Seit dreißig Jahren kämpfen die Menschen in der Parchimer Weststadt mit vielen Notlagen und Herausforderungen.
Zwischen 1993 und 2011 hatte die Stadt begonnen, die seit 1963 entstandene Plattenbausiedlung umzugestalten. Tristesse und Leerstand zu bekämpfen. Wohnblöcke wurden abgerissen, Grünflächen und Spielplätze angelegt. „Weststadt wird Waldstadt“ war die wohlmeinende stadtplanerische Überschrift über das Projekt. Aber Tristesse ist geblieben und die Sorgen vieler Menschen auch. Die meisten der Anwohner:innen sind auf Transferleistungen angewiesen.
Die Weststadt ist der größte, bevölkerungsreichste und kulturell vielfältigste Stadtteil Parchims. Hier lebt fast ein Viertel der Stadtbevölkerung, viele haben eine internationale Geschichte. Und: Ein Drittel aller Parchimer Kinder sind in den Wohnblöcken der Weststadt zu Hause, nicht in der backsteingotischen Altstadt.
Unter einem Dach
Der Treff der Diakonie ist für sie und ihre Eltern längst ein wichtiger Anlaufpunkt geworden. Zentral, in einem ehemaligen Kita-Gebäude aus Ostzeiten untergebracht, beherbergt er nicht nur einen Jugendclub mit werktäglichen Öffnungszeiten von 14 bis 20 Uhr und ein sehr gut besuchtes und selbst hergerichtetes Fitnessstudio mit Fanschals von allen europäischen Fußballclubs an den Wänden und der Decke. Dieser Treff bietet ein breites Spektrum an sorgfältig aufeinander abgestimmter sozialer Arbeit für Jung und Alt.
Schulsozialarbeit, Tagesgruppen, Ambulante Hilfen zur Erziehung, Psychologische Beratungsstelle, Jugendmigrationsdienst, Respect Coach, Schuldnerberatung, Migrationssozialberatung und Migrationsberatung für erwachsene Zuwander:innen sowie Straffälligenhilfe. Alles Tür an Tür und unter einem Dach.
Vorteil: kurze Wege
Ein kluges Konzept, das versucht den komplexen Problemlagen vieler der hier lebenden Erwachsenen und der Kinder auf möglichst unkomplizierte Art zu begegnen. Bärbel Behrend, die kommissarische Leiterin der Einrichtung: „Unser Vorteil ist, dass wir alles unter einem Dach haben und kurze Wege. Wenn ich höre, dass jemandem in drei Tagen der Strom abgestellt wird und es noch andere familiäre Probleme gibt, kann ich direkt an die Tür der Kollegin klopfen und besprechen, welche Hilfe noch möglich ist.“
Diese Art der ressortübergreifenden, multiprofessionellen Teamarbeit bringt die besten Ergebnisse. (Einen Augenblick erwische ich mich bei dem Gedanken, was in der Politik möglich wäre, wenn Ministerien endlich einmal auf diese Weise zusammenarbeiten würden.)
Ehrenamt macht’s möglich
Ohne Ehrenamtliche ist diese Arbeit aber nicht zu schaffen. Viele Menschen, die hier leben, engagieren sich mit und für andere. Eine junge Frau mit Kopftuch grüßt. Sie kommt von ihrer Schicht in einem Reinigungsbetrieb. Im Treff dolmetscht sie regelmäßig – ehrenamtlich. Im Erdgeschoss schraubt Frank Schulz an den Hantelstangen. Er hat hier diesen Fitnessraum aufgebaut. Die Geräte sind alt, es riecht nach Muckibude: „Der Jüngste, der hier trainiert ist 14, der älteste 72“, so Schulz. Für zehn Euro sei man dabei. Auch diese Arbeit wäre ohne das ehrenamtliche Engagement aus der Nachbarschaft unmöglich.
Und auch die Kirchengemeinde ist an Bord: Beim Rundgang auf dem Gelände kommt uns der Gemeindepädagoge Robert Stenzel mit seinem grün lackierten Lastenrad entgegen. Auch er hat sein Büro im Familientreff. Nach Schulschluss radelt er mit seinem „mobilen Spielzimmer“ durchs Quartier, hält an inzwischen wohlbekannten Freiflächen und Wegen, wo die Kinder oft schon warten, um Frisbees und anderes Outdoor-Spielzeug auszuborgen und ein bisschen zu quatschen. Stenzel hat Zeit dafür.
Es war ein sehr eindrücklicher Besuch, und ich blicke mit einem Gefühl von Zuversicht und Ungeduld auf die inspirierenden Begegnungen zurück: Für mich liegt auf der Hand, dass die Weststadt ein weiteres Beispiel dafür ist, dass soziale Hilfen und infrastrukturelle Maßnahmen dann wirksam Teilhabe- und Chancengerechtigkeit ermöglichen, wo sie ineinandergreifen und wo es gelingt, die Nachbarschaft für Engagement zu gewinnen.
Bauliche Veränderungen ohne passgenaue soziale Begleitung im Quartier helfen den Menschen in „Problemvierteln“ genauso wenig wie soziale Maßnahmen ohne infrastrukturelle Veränderungen.
Ungeduld und Zuversicht
Diese Sommerreise hat auch wieder bestätigt, dass die Arbeit in schwierigen Quartieren dort mit (manchmal mühsam errungenen und kleinen) Erfolgen rechnen kann, wo Behörden und Verwaltung, Wohngenossenschaften, Handwerk, Mittelstand, soziale Träger und Religionsgemeinschaften engagiert, kohärent und systematisch zusammenarbeiten. Im Interesse der Menschen.
Parchim und seine Weststadt sind kein Einzelfall. Fast alle Mittelstädte in strukturschwachen ländlichen Räumen kämpfen mit ähnlichen Herausforderungen: Sie alle haben damit umzugehen, dass die deutsche Gesellschaft sich auch in ihren „Mauern“ rasant verändert und zugleich älter, kulturell vielfältiger und sozial ungleicher wird. Das kann und muss kommunalpolitisch gestaltet werden. Gemeinsam. Deswegen: Ungeduld und Zuversicht.
Ernstfall Kommune
Die Kommune ist der Ernstfall der Demokratie, da hat der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau immer noch recht. Was dort geschieht oder nicht, das braucht heute viel mehr politisches und öffentliches Augenmerk, wenn wir uns morgen nicht alle wundern wollen.