Ungleicher Wohlstandsverlust

Ein dauerhafter Wohlstandsverlust droht Deutschland. Ende September geisterte diese düstere Meldung durch die Medien. Anlass war das völlig zu Recht pessimistische Herbstgutachten von vier renommierten Wirtschaftsinstituten, die zweimal im Jahr die sogenannte „Gemeinschaftsdiagnose“ vorlegen: Deutschland steht vor einer Rezession.

Das betrifft alle im Land, aber nicht alle auf die gleiche Weise. Wer noch Wohlstand zu verlieren hat, hat andere Sorgen, als die, für die seit Monaten schon jeder Einkauf ein schier unlösbares Problem ist. Wessen Wohlstand ist gemeint?

Handgeschriebene Pappschilder
Soziale Ungleichheit bringt Menschen auf die Straße: Was heißt in diesen Zeiten „Zusammenhalt“?   Foto:epd-Bild/Rico Thumser

Rund acht Millionen Menschen in Deutschland leben von existenzsichernden Leistungen. Hinzu kommen die vielen Familien sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Einkommen knapp über den Anspruchsgrenzen für Unterstützungsleistungen liegt und die derzeit wegen der Inflation und den Energiepreisen noch tiefer in die Armut rutschen. Die soziale Ungleichheit verschärft sich. Auch im Hinblick auf die immer ungleicher werdende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kommunen und Landkreise.

Wessen Wohlstand?

Mich beschäftigt das sehr: Wie hört man die Rede vom drohenden Wohlstandsverlust in Deutschland, wenn man, dort wo man lebt, gar nicht den Eindruck hat, an diesem Wohlstand überhaupt je einen nennenswerten Anteil gehabt zu haben?

Wie hört man andererseits Nachrichten über gezielte Unterstützung der Einkommensschwächsten, wenn man nicht zu den Einkommensschwachen gehört und trotzdem wegen der unkalkulierbaren Energiekosten schlaflos Nächte hat?

Um wessen Wohlstand geht es? Was definiert Zusammenhalt in diesen Zeiten über die sozialen Unterschiede hinweg? Hier besteht öffentlicher Gesprächs- und politischer Handlungsbedarf.

Auch in der Diakonie überlegen wir derzeit, was wir dazu beitragen können, um den Zusammenhalt zu verbessen. Deswegen haben wir gemeinsam mit der EKD die Aktion „Wärmewinter“ an den Start gebracht. Um in Kirchengemeinden und Diakonischen Einrichtungen im Wort- und im übertragenen Sinn wärmende Orte zu schaffen, die gut zu finden sind, jedem offenstehen und wo man auf Menschen trifft, die zuhören, die weiterhelfen können und wollen. Wenn Sie mitmachen wollen, hier finden sie Informationen.

Wärmewinter: EKD und Diakonie rufen Gemeinden und Einrichtungen dazu auf, niedrigschwellige Orte der Begegnung und Beratung zu öffnen. Bild: Diakonie

Gegen soziale Kälte

Wie sozial verhalten wir uns, die wir in der sozialen Marktwirtschaft zuhause sind, im Umgang miteinander? Arbeiten wir leidenschaftlich daran, dass sich in unseren Gemeinwesen soziale Kälte nicht weiter ausbreitet, oder Gleichgültigkeit und Missgunst? Es besteht Handlungsbedarf, denn die zunehmende Entfremdung zwischen den sozial Ungleichen im Land höhlt unser Gesellschaftssystem von innen aus.

Die Bundesregierung unternimmt gegenwärtig beträchtliche Anstrengungen um die komplexen Krisen unserer Tage sozialökonomisch zu gestalten: Entlastungspakete, Bürgergeld, Wohngeld. Es ist viel Gutes auf dem Weg. Und auch wenn die Diakonie und die anderen Sozialverbände nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass ein gutes Drittel der Gesellschaft von Inflation und Co immer noch am Härtesten getroffen wird, gilt: Es wird sehr viel Geld in die Hand genommen, um die anstehenden Härten erträglicher zu machen.

Zementierte Ungleichheit

Das ist gut, das ist unverzichtbar und es reicht nicht aus. Denn es ändert zu wenig an der durch viele Studien belegten und erneut während der Pandemie bestätigten Tatsache, dass Deutschland ein Land bleibt, in dem der Zugang zu Bildungserfolg, zu medizinischer Versorgung, zu bezahlbarem Wohnraum in lebenswerten Wohngegenden, aber auch zu den Stellen, an denen politische Entscheidungen getroffen oder maßgebliche Meinungen gemacht werden, zunehmend von der sozialen Herkunft und dem Portemonnaie abhängig sind.

Kurz gesagt: Wer arm ist, bleibt außen vor. Wer arm ist, ist gefährdet, arm zu bleiben. Die Zementierung der sozialen Ungleichheit scheint systemimmanent. Und sie vererbt sich weiter. Damit darf sich eine offene und soziale Gesellschaft nicht abfinden.

Demokratieunzufriedenheit

Die trotz all den anerkennenswerten Bemühungen bittere Grundstimmung mit Blick auf „das System“ kann einen vor diesem Hintergrund nicht wirklich wundern. Sie ist allerdings ein alarmierendes Symptom für den Zustand der Gemeinwesen:

47 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind nach einer Umfrage von Infratest Dimap unzufrieden mit der Demokratie. In Ostdeutschland sind es sogar 63 Prozent. Hier zeigen sich die Sollbruchstellen des sozialen Friedens und einer kulturellen Entfremdung – als Resignation, als Zorn, als Gleichgültigkeit.

Einem Seismographen ähnlich, meldet sich im Osten Deutschland dieses Unbehagen am lautstärksten. Tausende gehen wieder auf die Straße. Und auch wenn die Motivlagen gemischt sind und die rechtsextremen Töne aus dem Lager um Björn Höcke und Konsorten scharf verurteilt werden müssen, griffe es zu kurz, diese Proteste allein als rechtslastig verwirrt abzutun. In ihnen äußert sich auch der vollkommen berechtigte Wunsch gehört zu werden.

Hinter den Protesten

Das begründete Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Abwertung und des Nicht-Gesehen-Werdens ist ein gefährliches Schmiermittel für das schmutzige Geschäft der Populisten. Das treibt Menschen auf die Straße. Darum nehmen inzwischen zu viele paradoxerweise ihr Wahlrecht nicht wahr. Darum ziehen andere sich ins Private zurück und entsolidarisieren sich mit der Gesellschaft, in der sie leben.

Es ist eine wichtige Aufgabe, die Fragen zu identifizieren, die sich hinter der Protestenergie oder Demokratie-Lethargie verbergen. Es wird spielentscheidend sein, ob es uns gelingt diese Energie wieder ins Konstruktive übersetzen, f ü r etwas einzusetzen.

Wenn „das Volk“ bei der Lösung der komplexen Problemlagen, in denen wir uns vorfinden, im Rahmen unserer Demokratie Verantwortung übernehmen möchte, ist gegen „Wir sind das Volk!“-Rufe nichts einzuwenden.

Zielgenauigkeit zählt

Der akuten Not, dem sogenannten Wohlstandsverlust, der drohenden Armut muss staatlicherseits, schnell, pragmatisch und möglichst zielgenau begegnet werden. Wir als Diakonie haben dazu einen sehr pragmatischen Vorschlag gemacht und wir werden weiter darauf schauen, wie schnell und zielgenau Hilfen bei den Menschen mit den geringsten Einkommen, ohne Ersparnisse oder Eigentum tatsächlich ankommen.

Das Drittel der Bevölkerung, das weder über Rücklagen noch über Vermögen verfügt, kann eben nicht bis zur Überweisung des Wohngeldes nach dem Winter warten oder Hunderte von Euro aus Ersparnissen ausgleichen und dann auf Hilfe hoffen.

An der Frage, ob und wie uns schnelle, zielgenaue und wirksame Entlastung gelingt, entscheidet sich viel. Auch für die Zustimmung zur Demokratie.