Was für ein Jahr …

Zweifellos haben der Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen dem vergangenen Jahr ihren hässlichen Stempel aufgedrückt. Hunderttausendfacher Tod vor unserer Haustür, barbarische Zerstörung, Flucht, Energiekrise, Inflation sind seit dem 24. Februar die Treiber der Politik und prägen auch einen großen Teil der anwaltschaftlichen Arbeit in der Diakonie.

Symbolbild
Kriegsfolge Inflation: Relative Armut ist kein persönlich verschuldetes Schicksal – sie betrifft Millionen von Menschen. Foto: epd-Bild/Christian Ditsch

Dazu die weiterhin gärende Pandemie, der voranschreitende Klimawandel und die vielen anderen gesellschaftlichen Baustellen: Pflegenotstand, Fach- und Arbeitskräftemangel, die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft, die Digitalisierung aller Lebensbereiche, der demographische Wandel – die Liste ist lang.

Hochkomplexe Krisen

Die Gleichzeitigkeit von hochkomplexen Krisen, die sich gegenseitig verstärken, durchdringen und wechselseitig beeinflussen, kennzeichnet eine gesamtgesellschaftliche Lage, der auch wir uns als Spitzenverband zu stellen haben. In tausenden diakonischen Einrichtungen und Beratungsstellen in Rostock, Detmold oder im Bayrischen Wald verbindet er sich mit konkreten Gesichtern und Lebensgeschichten.

An sie denke ich, wenn ich auf dieses Jahr zurückschaue. Sind wir, ist die Politik, ist die Zivilgesellschaft in diesem Krisenjahr 2022 diesen sehr unterschiedlichen Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und in sehr unterschiedlichen Nöten gerecht geworden?

Von Armut bedroht

Für uns als Diakonie ist entscheidend, wie die Menschen durch diese Krisen kommen, die auch schon vor den explodierenden Preisen und galoppierenden Energiekosten jeden Cent zweimal umdrehen mussten.

Das sind in Deutschland nicht nur die rund acht Millionen Personen, die existenzsichernde Leistungen beziehen, sondern auch die Familien, die Rentnerinnen und Rentner, die arbeitenden Menschen, die Studierenden, deren Einkommen nur knapp über den Anspruchsgrenzen für Unterstützungsleistungen liegt und die wegen der Inflation und den hohen Energiepreisen noch tiefer in die Armut zu rutschen drohen.

Und viele geraten in diesen Wochen ins Rutschen: Das berichten nicht nur die Tafeln, die dem Ansturm auch mit A- und B- Wochen für die Berechtigten kaum mehr begegnen können, das zeigt nicht zuletzt auch das große Echo auf die Aktion #wärmewinter von EKD und Diakonie Deutschland. Und: Mit der Energiekrise ist die Angst vor Abstieg und erheblichem Wohlstandsverlust auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Populistische Chimäre

Die immer wieder bemühte Unterscheidung von vermeintlich durch eigenes Verschulden mittellos gewordenen und der ansonsten hart arbeitenden Bevölkerung war schon immer eine populistische Chimäre, spätestens mit dieser Krise ist sie augenfällig obsolet. Sie stimmte schon vorher nicht.

Relative Armut ist kein individuelles Versagen, sondern ein Massenphänomen geworden. Die Zahl der arbeitenden prekär Lebenden hat in den letzten 20 Jahren stetig zugenommen und betrifft auch einen deutlichen Teil der Leistungsbeziehenden in der Grundsicherung. Energiekrise und Teuerung verschärfen deren Lebensumstände.

Demokratiearbeit

Wem der gesellschaftliche Zusammenhalt und die freie Gesellschaft am Herzen liegt, der muss hier nun zielgenau, schnell und wirksam gegensteuern. Es geht bei Armutsbekämpfung nie nur um Geld. Es geht auch um die Würde und die Teilhaberechte von sehr vielen Menschen, es geht letztlich um die Zukunft der Demokratie.

Ob Demokratie und Sozialstaat in der Krise als verlässlich erlebt werden oder nicht, hat verlässlich Folgen für das politische Klima im Land. Verkürzt gesagt: Wer die Armen im Land vergisst, wer ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindert, untergräbt das Vertrauen in das demokratische System.

Härten abfedern

Die Koalition hat in den zurückliegenden Monaten große und anerkennungswerte Anstrengungen unternommen, um die Härten von Inflation und Energiekrise abzufedern. Mit klugen und weniger klugen Maßnahmen:

Im Sinne der Krisenintervention ist es gut, dass es nun die beschlossenen Entlastungspakete mit schnellen, zielgerichteten Hilfen gibt.Auch das 9-Euro-Ticket war ein nützliches Instrument. Das 49-Euro-Ticket dagegen ist für Hartz-IV bzw. Bürgergeldempfänger wieder unbezahlbar und für diese Menschen ähnlich wirkungslos wie der Milliarden verschlingende Tankrabatt, der nicht den tatsächlich von Armut Betroffenen zu Gute kam, sondern eher den Autofahrer:innen unter den Normal- und Besserverdienenden. Deshalb schlagen wir ein bundesweites 29-Euro-Sozialticket vor.

Als Diakonie begrüßen wir auch, dass der Ausstieg aus Hartz IV und der Einstieg ins Bürgergeld endlich gelungen sind (Ich habe im Blog kürzlich dazu geschrieben.)

Wir begrüßen auch, dass die Wohngeldreform kommt. Das Thema bezahlbarer Wohnraum ist die soziale Frage dieser Zeit. Mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland haben keinen Mietvertrag und kein eigenes Zuhause. Das Grundrecht auf Wohnen braucht nun endlich einen Neustart in der sozialen Wohnungsbaupolitik.

Es wird auch im kommenden Jahr sehr viel zu tun geben – mit und für die Menschen, die tagtäglich erleben, wie hart es ist, am Leben der Gesellschaft nicht teilnehmen zu können – weil weder das Geld, noch die Bildungsvoraussetzungen oder passgenaue Hilfen vorhanden sind.

Gesellschaftlicher Lernbedarf

Entscheidend wird sein, welches Menschenbild die politischen Debatten und Entscheidungen orientiert. Der entwürdigende, arme Menschen diffamierende öffentliche Schlagabtausch rund um das Bürgergeld zeigt, dass es einen hohen gesellschaftlichen Lernbedarf gibt:

Von Armut bedrohte Menschen haben – das garantiert der Sozialstaat auch in der Krise – ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Sie sind weder Bürger:innen zweiter Klasse, noch Bittsteller:innen oder Almosenempfänger:innen.

Es braucht vielmehr eine verlässliche und kostenfreie Struktur von Rechtsansprüchen auf Ressourcen und Hilfen, die nicht nur finanzielle Not lindert, sondern die jeder Person eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe und Beteiligung ermöglicht – unabhängig vom Einkommen.

Das bleibt das lohnende Ziel. Und wo das gelingt, steigt auch die Zustimmung zur Demokratie wieder.