Ballastexistenz. Ein widerlicher Propagandabegriff für Menschen mit geistiger Behinderung, den der Freiburger Psychiater Alfred Hoche und der Leipziger Jurist Karl Binding 1920 in die damalige gesellschaftliche Debatte um die „Euthanasie“ einbrachten. Zwanzig Jahre bevor Adolf Hitler mit einer Notiz die gnadenlose Maschinerie der Patientenmorde im NS-Staat in Gang setzte, plädierten die beiden nicht aus „rassenhygienischen“, sondern vor allem aus ökonomischen Gründen für die aktive Tötung schwer geistig behinderter Menschen.
Geistiger Resonanzraum
Ihr in der Weimarer Republik viel beachtetes Buch hatte den schockierenden Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Eine verhängnisvolle Diskussion war eröffnet, eine Denk- und Sprechweise sickerte in die Gespräche, ins Denken: Ballastexistenz. Aus Worten wie diesen, aus dem Denken, das sie legitimierte, wurden nur zwei Jahrzehnte später furchtbare Taten: Die sogenannte T4-Aktion wurzelte auch in solchen pseudowissenschaftlichen Texten.
Das nationalsozialistische Mordprogramm gegen psychisch Kranke, geistig und körperlich Behinderte, aber auch „rassisch“ und sozial Unerwünschte, benannt nach der Adresse der für die Deportation und unzählige Morde verantwortlichen Berliner Dienststelle in der Tiergartenstraße 4, steht in diesem geistigen Resonanzraum. Mehr als 70.000 Männer, Frauen und Kinder wurden bis 1941 in den eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten ermordet.
Netzwerk der Vernichtung
Vor der Bevölkerung geheim gehalten, aber unter Mitwirkung von Justiz und Polizei, von zahllosen Einzelpersonen, Bürgerinnen und Bürgern: Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Verwaltungsangestellten, Bürokräften, Anstaltsleitern, Handwerkern, Busfahrern, Hausmeistern, Reinigungskräften und vielen anderen. Viele waren an diesen Morden, an diesem Netzwerk der Vernichtung beteiligt.
Und auch wenn eine wachsende Unruhe im Land und vereinzelte prominente Proteste wohl dazu beitrugen, das massenhafte Morden zu stoppen – viel zu wenige haben versucht, dem Töten Einhalt zu gebieten. Die Innere Mission war da keine Ausnahme. Wir haben die uns Anvertrauten nicht beschützt.
Ein Cocktail aus Gesinnung und Angst, aus Obrigkeitshörigkeit, aus Feigheit und Verzweiflung. Man kann Gründe nennen, die Schuld bleibt. Auch aus unseren Einrichtungen wurden tausende Menschen in den sicheren Tod geschickt. Ja, es gab widerständiges Verhalten, es gab Versuche, die Behörden hinzuhalten, es gab vereinzelt auch deutlichen Protest. Aber es gab keinen Widerstand in der Breite. Auch nicht gegen die Deportation jüdischer Patientinnen und Patienten.
We remember
Insgesamt gehen Historiker von 250.000 bis 300.000 Opfern bis Kriegsende aus. Denn nach dem Ende der zentral gesteuerten Aktion im Jahr 1941 ging das Morden „dezentral“, unauffälliger, weiter. Es lag in der Hand der regional Verantwortlichen, welche Lebenschancen Menschen mit Behinderungen, mit psychiatrischen Diagnosen oder „auffälligem“ Verhalten hatten. Gezielte Überdosierung oder auch systematische Unterernährung waren häufige Todesursachen. Vor allem in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten sind die Opferzahlen schwer zu ermitteln.
Und noch etwas darf nicht vergessen werden: Planung, Organisation und Durchführung dieser Patientenmorde waren eine Art Probelauf für die Planung, Organisation und Durchführung des Massenmordes an den europäischen Juden. Es waren auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der T4-Zentrale, die nach 1941 in Vernichtungslagern wie Sobibór oder Treblinka eingesetzt wurden. #weremember.
Der 27. Januar, der Tag, an dem 1945 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der vorrückenden Roten Armee befreit wurde, ist in Deutschland seit 1996 ein gesetzlich verankerter bundesweiter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.
Die zentrale Gedenkveranstaltung im Bundestag stellt in diesem Jahr das Leid von Menschen in den Mittelpunkt, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Jürgen Dusel, der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, lädt außerdem an die Gedenk- und Informationsstätte für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in der Tiergartenstraße 4 ein.
Der Opfer gedenken
Dort werde ich heute einen Kranz niederlegen. In diesem Jahr, in dem wir 175 Jahre Diakonie in Deutschland feiern, ist es mir und unserem Verband ein wichtiges Anliegen, auch an die dunklen Seiten unserer Geschichte zu erinnern: Die Patientenmorde in der NS-Zeit gehören zu den finstersten Kapiteln. Obrigkeitshörigkeit und Kriegsbegeisterung, die missbräuchliche Gewalt, die es in unseren Häusern gab – dies alles hatte schlimmste Folgen für die uns Anvertrauten. Daran zu erinnern, damit umzugehen, hat einen festen Platz unter dem Hashtag unseres Jubiläums: #ausLiebe.
Ich hoffe, das Erinnern wirkt. Auch in die Gegenwart hinein: Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt machen Menschen mit Behinderungen, psychisch Kranke und Menschen mit auffälligem Verhalten und ihre Angehörigen in unserer Gesellschaft jeden Tag.
Wachsam bleiben
Der Ungeist, der den Wert eines Menschen ausschließlich an seiner oder ihrer Leistungsfähigkeit festmacht, ist längst nicht überwunden. Das wissen alle, die sich für Inklusion, für Integration, für eine Gesellschaft der Vielfalt einsetzen. Wir müssen wachsam bleiben. Aus Liebe. Heute gedenken wir der Opfer.