Stunde Null

Gerade aus San Francisco und dem Silicon Valley zurückgekehrt höre ich im Autoradio ein Interview mit dem Leiter des Freiburger Zentrums für didaktische Computerspielforschung Professor Jan Boelmann. Auf den Punkt genau formuliert er, was wir unter den Mitreisenden und mit vielen Gesprächspartner:innen unter den Eindrücken der Gespräche mit vielen hochrangigen Verantwortlichen von Techfirmen und Instituten, Entwickler:innen und Politiker:innen in den zurückliegenden Tagen immer wieder intensiv diskutiert und, ja, gefühlt haben:Im Vergleich mit dem Umbruch im Mobilfunkmarkt durch das Smartphone seit 2007 ist der aktuelle sprunghafte Entwicklungsfortschritt in den Bereichen des Machine Learnings, des Deep Learnings und der Generativen Künstlichen Intelligenz ein Quantensprung. Jan Boelmann spricht mit Recht von einer „Stunde Null“ in der Technologiegeschichte, die alle Bereiche unseres menschlichen Lebens auf diesem Planeten grundlegend verändern wird.

Heile Welt im Quantensprung? Aus: Thomas Klie/Peter Gaymann, DEMENSCH, Texte und Zeichnungen, Heidelberg 2023. Bild: Peter Gaymann, www.gaymann.de

Quantensprung

Kindheit, Lernen, Bildung und Arbeit, Kommunikation, Forschung und Politik, Gesundheit, Alter und Pflege, die Kunst und nicht zuletzt das Übergangsfeld Mensch-Maschine werden sich durch den epochemachenden Fortschritt im Bereich der Künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahren grundlegend wandeln.

Gut zehn Tage haben wir einen tiefen Einblick in die rasante Entwicklung von Hochleistungschips, neuronalen Maschinennetzwerken und deren beeindruckende Fähigkeiten und Möglichkeiten nehmen können.

Ein ganz offensichtlich hochintelligenter und genauso stolzer, etwa dreißig Jahre alter Entwickler hält uns auf seiner Hand einen Chip vor unsere ungläubig staunenden Augen, der etwas kleiner als ein Smartphone ist, und erklärt uns, dass mit diesem Chip eintausend Trillionen Operationen in einer Sekunde möglich sind.

Und, als wäre das nicht genug, führt er uns durch das stylish-schwarze Iglu der digitalen Innovationen – das mich mit seiner Lichtinstallation und futuristischen Gestaltung ein wenig an alte Bebilderungen des himmlischen Jerusalems erinnert – von einer bahnbrechenden Anwendung dieses Chips und der aus ihm zusammengesetzten Rechner zur nächsten:

Avatare im Alltag

Eine junge Koreanerin begrüßt uns freundlich von einem Bildschirm, während auf dem Bildschirm neben ihr ein Avatar in kürzester Zeit ihre Gesichtszüge annimmt und als ihr digitaler Zwilling nicht mehr von seinem lebendigen Original zu unterscheiden ist.

In welcher Sprache sie nun zu uns sprechen soll, werden wir gefragt. Französisch? Deutsch oder Japanisch? – Diese humanoiden Avatare können in jeder gängigen Sprache der Welt mit ihren Gesprächspartnern kommunizieren.

Sie werden uns zukünftig in digitalen Konferenzen unterstützen oder sogar vertreten, zur Not simultan in mehreren Sprachen, wenn Menschen (?) aus unterschiedlichen Ländern an einer solchen Konferenz teilnehmen. Im August diesen Jahres soll dieser Konferenzservice marktreif sein.

In der nächsten Box sehen wir ein Auslieferungslager und wieder entsteht in Sekundenschnelle ein digitaler Zwilling auf den Bildschirmen vor uns, in dem ein menschlich aussehender Avatar durch die Regale schreitet und Waren aussucht. Auch die Zukunft des Einkaufens wird digital sein, lernen wir. Nach der digitalen Auswahl steht der Warenkorb wenig später vor meiner ganz analogen Haustür. Wahrscheinlich wurde er von einem autonom fahrenden Flugroboter gebracht. Autonomes Fliegen ist gerade das heiß diskutierte Entwicklungsthema im Silicon Valley.

Schneller, präziser, freundlicher

Und selbstverständlich gibt es in diesen Lagern zukünftig so gut wie keine Menschen mehr, KI-gesteuerte Hochleistungsroboter fahren mit atemberaubender Geschwindigkeit die Regale entlang und an den Regalen hoch, beladen und entnehmen. Sie sind achtzig Mal schneller als menschliche Gabelstaplerfahrer:innen und sehr viel präziser.

In der nächsten fast sakral ausgeleuchteten Box wird uns das Können dieser Robotergeneration noch einmal demonstriert. Wir sehen einen sehr versierten Techniker bei der händischen Montage einer komplizierten Zuleitungskonstruktion und wenig später, wie ein Roboter, nachdem ein Film dieser Montage umgerechnet und als Information an ihn weitergeleitet wurde, genau diese hochkomplexe Leistung in Hochgeschwindigkeit erbringt.

Eintausend Trillionen Operationen in einer Sekunde machen sehr viel möglich. Verknüpfen sich solche Möglichkeiten in neuronalen Netzwerken, grenzt das an unsere Vorstellungsmöglichkeiten. Tatsächlich so etwas wie eine technologische Stunde Null, die unser Leben und unser Zusammenleben grundlegend verändern wird – in naher Zukunft.

Nahe digitale Zukunft

Wir sind mit einer zwölfköpfigen Delegation aus Vertreter:nnen der verbandlichen Diakonie in Deutschland und in Österreich, von DUCAH, der Körber-Stiftung Hamburg und der Evangelischen Kirche gereist. Und wir haben sehr viel über in naher Zukunft mögliche oder bereits entwickelte digitale Neuerungen im Bereich Pflege und Health-Care, Verwaltung, Prozess- und Konferenzgestaltung gelernt.

Sprachgesteuerte Bildschirmkommunikation mit einer hochauflösenden Bildqualität wird die Lebensqualität und die Selbstbestimmung von „älter werdenden Erwachsenen“ (auch diesen Terminus haben wir im ebenfalls schnell älter werdenden Staat Kalifornien neu gelernt) sowie die Qualität ihrer medizinischen und pflegerischen Versorgung enorm verbessern helfen:

Assistenzroboter sorgen als gut gelaunte sprechende Diener:innen für die regelmäßige Medikamenteneinahme, legen die gewünschte Musik auf oder verbinden mit der Apotheke, der Schachpartnerin oder dem Enkelkind. Optimierte Patientenjournals und spezielle mit Wearables verbundene KI-Programme ermöglichen eine personalisierte Medizin mit sehr viel besserer Überwachung, Prävention und Behandlung von Menschen mit chronischen Erkrankungen.

KI-gesteuerte mobile Diagnostik- und Radiologiegeräte, denen Billionen von Patientendaten als Daten- und Vergleichsbasis in Sekundenschnelle zur Verfügung stehen, werden eine neue Qualität der Medizin auch in entlegenen Regionen dieser Welt ermöglichen helfen.

Eintausend Trillionen mögliche Rechenoperationen in einer Sekunde stehen tatsächlich für eine Stunde Null nicht nur in der Technologiegeschichte der Menschheit.

Bestürzende Möglichkeiten

Ein Innovationsexperte von Apple, mit dem ich am Rande einer Diskussion über „Responsible AI“ im Gebäude der SAP in Palo Alto sprechen konnte, gestand freimütig, was uns alle neben unserer Faszination für die Chancen dieser Entwicklung auch beschäftigte und weiter beschäftigt: „Wir sind bestürzt über unsere Möglichkeiten.“

Es gibt viel zu reden und zu diskutieren auch in unserem Land. Wie wollen wir zukünftig den Übergang Mensch-Maschine gestalten? Wem gehören welche Daten? Mit welchem Recht verhindern wir im Interesse des Datenschutzes möglichen medizintechnischen Fortschritt von enormer Qualität für Alle? Und welche Regulationen und Gesetze helfen, welche verhindern mehr als sie zu schützen vermögen?

Können wir noch vertrauen, wenn digitale Zwillinge von uns auf dem Bildschirm kaum mehr von uns zu unterscheiden sind? Wie verändern sich Medien, Kommunikation und Politik und welche Manipulationen bergen welche neue Gefahren? Wie verändert sich die Arbeit und die Gestaltung von Zeit und Teilhabe? Sehr viele grundlegende Fragen, mit deren Klärung und Diskussion wir uns beschäftigen müssen.

Diakonisch digital

Und es gibt viel zu tun – auch in unseren vielfältigen diakonischen Handlungsfeldern von der frühkindlichen Bildung bis zur Pflege im Alter, von der Beratung bis zur hochspezialisierten Operation.
Auch an unsere Organisation, die Prozesse und Zusammenarbeit in unserem Verband stellen sich mit diesem Epochenbruch der digital-technologischen Entwicklung neue Fragen und gleichzeitig bieten sich auch neue Möglichkeiten.

Wie ermöglichen wir unseren Mitgliedsunternehmen genauso wie den uns anvertrauten Menschen Teilhabe, die Mitgestaltung und Anwendung dieser neuen noch gar nicht abzusehenden Möglichkeiten?

New Work, Agilität, Co-Working, Kollaboration und Sharing-Culture dürfen nicht nur Schlagworte in Diskussionen sein, sie sollten unser Zusammenwirken spürbar verändern.

Move faster

175 Jahre nach Johann Hinrich Wicherns bahnbrechender Rede auf dem Kirchentag in Wittenberg stehen wir wieder vor einer Zeitenwende, die wir zusammen #ausLiebe gestalten und verantworten wollen.

Meinen Blog zu meinen Eindrücken und Einsichten meiner ersten Reise nach Palo Alto vor sechs Jahren habe ich mit dem damals gültigen Password für ein Log-in in das Netz auf dem Campus von Facebook beendet: „Move fast“. Heute braucht es, fürchte ich, den Komparativ: „Move faster.“