Pfingstliche Orte

Sonntag feiert die Christenheit Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, der gemeinschaftsstiftenden Kraft von oben. Wie sehr wir diese Inspiration brauchen in Zeiten, in denen viele von Spaltungstendenzen und zunehmenden Ungleichheiten in den westlichen Gesellschaften sprechen!

Auch die Demokratie braucht pfingstliche Orte. Kleine und große Spielplätze des Denkens und Handelns, die den Horizont erweitern. Orte, an denen sich die Gemeinschaft der Vielfältigen immer wieder neu finden und erfinden kann, wo fremde und weniger fremde Menschen einander begegnen und entdecken, was sie bei aller Unterschiedlichkeit verbindet.

Leider – oder Gottseidank – kann man pfingstliche Orte nicht erzwingen, aber man kann versuchen, inspirationsfördernde Rahmenbedingungen zu schaffen.

Menschen an einer Biertischgarnitur
Pfingstlicher Ort: Tafel auf dem Tempelhofer Feld (Berlin) am Tag der Offenen Gesellschaft im Juni 2022. Foto: Initiative Offene Gesellschaft

TdoG inspiriert

Der Tag der offenen Gesellschaft (TdoG) bietet auch in diesem Jahr am 17. Juni wieder viele Möglichkeiten dazu: Landauf landab stellen engagierte Menschen Tische und Stühle „vor die Tür“ und bitten Nachbarinnen und Passanten, Fremde und weniger Fremde zu Tisch. Zu einem Fest für Vielfalt, Zusammenhalt und demokratische Teilhabe. An improvisierten Tafeln auf Markt- oder Kirchenvorplätzen, um Picknickdecken in Grünanlagen und Kleingärten oder einfach am Gartentisch auf dem Bürgersteig.

2017 hat die Initiative Offene Gesellschaft, die ich seit ihren Anfängen und als Vorstand unterstütze, zum ersten Mal zu diesem „Demokratie-Feiertag von unten“ eingeladen. Seitdem folgen jährlich rund 30.000 Menschen der Einladung zum Tische rausrücken und setzen mit spontaner Gastfreundschaft ein inspirierendes Signal für Vielfalt, Gemeinschaft und Begegnung auf Augenhöhe – allen Unterschiedlichkeiten zum Trotz.

Symbol Tischgemeinschaft

Die Tischgemeinschaft ist ein altes und starkes Symbol für menschliches Miteinander. Wir alle essen gerne – das verbindet uns über alle Unterschiede hinweg. Und unser Essen miteinander zu teilen, ist eine Ur-Akt des Friedens. Bestechend simpel und absolut überzeugend.

Gastfreundliche Tischgemeinschaften können pfingstliche Orte sein: Einer backt einen Kuchen und kocht Kaffee, die nächste teilt die Erdbeeren vom Markt, ein Bäcker spendet belegte Brötchen für alle. Solche und ähnliche Geschichten erzählen alle, die man nach ihren TdoG-Erfahrungen fragt. Und dann, nach dem Kennenlernen, tauchen sie in die Themen ein.

In diesem Jahr ist „Fairplappert euch!“ das Motto, und die für Gastgeber:innen kostenlose Materialbox birgt viele Anregungen, um auch mit anderen Menschen zum weiten Thema Fairness und Gerechtigkeit ins Gespräch zu kommen.

Fremdheit überwinden

Schon die alte Pfingstgeschichte hat ja diesen überraschenden Twist: Der Geist bewirkt, dass Fremdheit überwunden wird, dass Menschen einander verstehen, erzählt die Apostelgeschichte. Fremde Sprachen trennen nicht mehr. Herkunft spielt keine Rolle. Kommunikation gelingt. Verstehen wird möglich und Gemeinschaft erfahrbar.

Das feiern wir am Sonntag in den Kirchen der Welt. Und halten die Sehnsucht danach wach, dass inmitten der müden Strukturen und langen Prozesse, in Ungeduld und Fantasielosigkeit unerwartet, ungeplant Neues und Gutes entstehen kann und wird. Und wir hoffen, dass das weltanschauungs- und religionsunabhängig in unsere gleichermaßen säkularisierten und multireligiösen Gemeinwesen mit all ihren sozialen, politischen, ökologischen Großbaustellen ausstrahlt und ansteckt.

Der freie Geist Gottes

Ich bin davon überzeugt: Pfingstliche Orte sind eben nicht nur in der Kirche beheimatet. Der freie Geist Gottes weht, wo er will. Institutionelle Grenzen, religiöse Formate sind zweitrangig. Wichtiger ist, wie er wirkt, dieser Geist. Er überwindet Grenzen zwischen Menschen und stiftet Gemeinschaft. Wo dieser freimachende Geist wirkt, wird es leichter, einander zu verstehen, leichter miteinander unterwegs zu sein – und doch unterschiedlich bleiben zu dürfen.

Ich bin überzeugt: Auch die Tafeln am Tag der Offenen Gesellschaft können Orte werden, an denen der gemeinschaftsstiftende Geist der Freiheit wirkt. Jeder Tisch ein Stückchen gelebte demokratische Kultur – unverzichtbar in Zeiten, in denen öffentliche Debatten zu oft zum destruktiven Schlagabtausch verkommen. Es ist eine chancenreiche Einladung an Kirche und Diakonie, an diesen Tafeln ihren Platz ein zu nehmen. Unsere Demokratie braucht pfingstliche Orte.

Netzwerk für Demokratie

Zum 7. Mal ruft die Initiative Offene Gesellschaft zu diesem Fest der Demokratie auf, und die vielen Menschen, die dem Aufruf folgen, sind lebendige Knotenpunkte eines landesweit geknüpften Netzwerks für Demokratie und Vielfalt. Für ein paar Stunden kommen sie mit neuen Menschen ins Gespräch, essen und trinken, teilen, was mitgebracht wird, lachen und diskutieren über das, was dran ist – und setzen sehr konkret kleine und größere Zeichen des Zusammenhalts.

Und mitunter werden aus diesen Tisch- und/oder Picknick-Gemeinschaften tatsächlich Keimzellen für weitere Verabredungen, die über den TdoG hinaus in ihrem Viertel, ihrer Stadt, ihrer Region gestaltend wirksam werden. Dass der Tag der offenen Gesellschaft auf diese Art nachhaltig werden kann, hätte 2017 wohl niemand vermutet. Hier können Sie Ihre eigene Aktion anmelden. –

Der Geist weht, wo er will. Stellen Sie Tische und Stühle raus!

Ich wünsche Ihnen frohe und gesegnete Pfingsten!