Wir müssen reden!

Halbzeit für die Agenda2030. Im Jahr 2015 hatte sich die Weltgemeinschaft auf eine ambitionierte Transformationsagenda mit klar formulierten Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) geeinigt. Siebeneinhalb Jahre später fällt die Zwischenbilanz ernüchternd aus:

Podiumsgespräch
Die Zeit zu handeln ist jetzt: Abschlusspodium mit (v.l.) Professor Dr. Dr. Stefan Brunnhuber, Dr. Elga Bartsch, Ulrich Lilie, Stephhan Kosch (Moderation) und Dr. Stefan Zahn. Foto: Diakonie /Kathrin Klinkusch.

Kaum Fortschritte

Bei den meisten der 17 Ziele zur Überwindung von Armut, Hunger und Ungleichheit, für nachhaltiges Wirtschaften, Klimaschutz und Friedenssicherung gibt es kaum Fortschritte. Hinzu kommt, dass Pandemie, Kriege und die Klimakrise bereits erzielte Fortschritte wieder zunichte gemacht haben. Angesichts dieser Situation die Zuversicht nicht zu verlieren, ist nicht einfach. Aber den „Luxus der Hoffnungslosigkeit“ (Dorothee Sölle) können wir uns nicht leisten.

In der vergangenen Woche habe ich am Kongress „Die Zeit zu handeln ist jetzt“ zur Halbzeitbilanz der Agenda2030 teilgenommen. Die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen hat ihn gemeinsam mit EKD, Brot für die Welt und Diakonie Deutschland veranstaltet.

Nicht nur, um Bilanz zu ziehen, sondern auch, um mit rund 200 Fachleuten aus Politik und Entwicklungszusammenarbeit, Wissenschaft und Diakonie, Kirche und Wirtschaft zu diskutieren, wo die wirksamen Transformationshebel liegen, die die dringend notwendigen Gestaltungsprozesse beschleunigen oder überhaupt erst in Gang setzen können: international und national.

Transformationshebel finden

Die Aktivierung der Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Hebel. Geld ist ein weiterer: Ob und wie es gelingt, das globale Finanzsystem so anzupassen, dass es die richtigen Anreize setzt – ein Megaprojekt. Aber eben auch durchaus leistbar, wie Club of Rome-Mitglied Professor Dr. Dr. Stefan Brunnhuber aufzeigte: Nur etwa 2 Prozent des Weltbruttosozialproduktes bräuchte es, um die Ziele fristgerecht und weltweit zu realisieren.

Ungefähr soviel Geld, wie der Westen gerade in die Unterstützung der Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen den russischen Überfall steckt. Es könnte also durchaus gelingen. Entscheidend wird sein, dass die Politik ihre Kurzatmigkeit verliert und die SDGs in allen Arbeitsbereichen wirklich als Kompass ihrer Strategien nutzt.

Was mir bei diesem hochkarätigen, engagierten und multiperspektivischen Austausch deutlich geworden ist: Wir brauchen dringend einen neuen Modus, in dem wir die politischen Weichenstellungen organisieren: agiler, kohärenter, kollaborativer, über Kompetenz- und Ressortgrenzen hinweg und viel mehr lösungs- und weniger profilierungsorientiert.

Angesichts der globalen Krisen, die mit Insellösungen in Ministerien nicht verschwinden und deren Bearbeitung immer teurer wird, je länger wir warten, haben wir keine Zeit für Aufschub.

In der Warteschleife

Und die Diakonie, wie die gesamte gemeinwohlorientierte Sozialwirtschaft, braucht nicht irgendwann, sondern jetzt Gesetze und Rahmenbedingungen, die es unseren Trägern und Einrichtungen ermöglichen, sich als die starken Partnerinnen, die sie sein können, in den sozial-ökologischen Umbau in Deutschland einzubringen.

Für die überfällige energetische Sanierung unserer fast 100.000 Immobilien – die 40 Prozent der CO2-Emissionen ausmachen – finden sich immer noch keine systematischen Anreize, obwohl fast alle Träger dringend darauf warten. Es geht auch um die SDGs 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden, 12: Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster und 13: Maßnahmen zum Klimaschutz.

Derzeit verhindern die politischen Rahmenbedingungen wirksam, dass das Gesundheits- und Sozialwesen seine Klimaschutzpotenziale ausschöpfen kann. Dies gilt für den Gebäudebereich, aber eben auch für die Verpflegung. Ein Hemmnis ist die einseitige Ausrichtung des Sozialrechts auf Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, die sinnvoll ist, aber eben dringend ergänzt werden muss um das Kriterium der Nachhaltigkeit.

Verschiebebahnhofspolitik

Wir haben heute die himmelschreiend widersinnige Situation, dass Träger von Pflegeheimen zwar hohe Energiekosten erstattet bekommen, aber bei Modernisierungen im Sinne des Klimaschutzes und der Energiekostensenkung weitestgehend allein gelassen werden. In der Frage der Refinanzierung nachhaltiger sozialer Dienstleistungen findet bislang ein ermüdendes „Ping-Pong-Spiel“ zwischen den zuständigen Bundesministerien, den Ländern und den Kommunen statt.

Das ist eine kafkaeske Verschiebebahnhofspolitik! Und damit muss Schluss sein. Denn die Bundesregierung kann ihre Klimaziele nur m i t der Sozialwirtschaft erreichen, die bereits jeden Tag an der Umsetzung vieler Nachhaltigkeitsziele engagiert arbeitet, wenn es etwa um Gesundheit und Wohlergehen, um Teilhabe, Bildung oder gute Arbeit geht.

Auch in Deutschland wird die Agenda2030 durch Binnenlogiken von Ministerien, scheinbar in Marmor gehauene Verwaltungsvorschriften und widersprüchliche Refinanzierungslogiken  erfolgreich ausgebremst.

Die Diakonie hat sich vorgenommen – im Sinne der SDGs – bis 2035 klimaneutral zu werden. wenn wir bei aller Ambition weiterhin so behindert werden, ist auch dieses Ziel schwer zu erreichen.

Runder Tisch Klimaschutz

Wie kann es gelingen, dass die politischen Ressorts nicht gegeneinander oder nebeneinander, sondern miteinander arbeiten? Die ressortübergreifenden Transformationsteams in der Bundesregierung sind ein guter Anfang, die in sich geschlossenen Silostrukturen aufzubrechen. Aber ich bezweifle, dass das ausreicht.

Wir brauchen nicht nur dringend einen runden Tisch Klimaschutz in der Sozialwirtschaft, der die Bundesministerien für Wirtschaft und Klimaschutz, für Arbeit und Soziales, das Familienministerium, das Gesundheitsministerium und die Freie Wohlfahrtspflege zusammenbringt, um abgestimmte Rahmenbedingungen zu schaffen, die Investitionen in den Klimaschutz in der Sozialwirtschaft ermöglichen.

Wir brauchen auch eine Neuauflage der „Kohlekommission“, die die Akzeptanz und den politischen Schub für einen bis dahin undenkbaren Schritt geschafft hat: den endgültigen Ausstieg der viertstärksten Volkswirtschaft der Welt aus der Kohlenutzung. Wir brauchen eine „Kommission sozial – ökologische Transformation“, in der alle Kompetenzen der Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik mit dem Ziel einer neuen kohärenten Politik zusammenarbeiten. Eine solche Kommission würde auch die gesellschaftliche Zustimmung zu den notwendigen Kursänderungen deutlich verbessern.

Trotzdem hoffen

Am Ende des Kongresses fragte uns der Moderator des Abschlusspanels, was uns (trotzdem) hoffen lässt? – Für mich sind es unzählige wunderbare Menschen, die sich vor Ort engagieren. Die nicht aufhören, daran zu glauben, dass eine bessere Welt möglich ist, und die in ihrer Nachbarschaft, in ihren Stadtteilen und Dörfern für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung arbeiten – sei es in Kirche und Diakonie, in Vereinen oder Nachbarschaftsprojekten. Sie sind das Rückgrat der Zivilgesellschaft und ohne ihre Tatkraft wären wir verloren. Auch ihr Potenzial gilt es intelligenter zu nutzen.