„Unerhört! Diese Jugendlichen.“, „Unerhört! Diese Einsamen.“ Das sind die neuen Slogans auf den violetten Großplakaten unserer Diakonie-Kampagne. Ab dieser Woche werden sie geklebt. Um es gleich zu sagen: Wir wollen uns damit nicht an dem „Jugend-von-heute“-Bashing wegen ihrer angeblichen Mitschuld an den steigenden Corona-Zahlen beteiligen. Wir wollen die Debatte vielmehr in eine etwas andere Richtung drehen.
Denn Jugendliche verdienen echte, wertschätzende Aufmerksamkeit. Sie brauchen unser Gehör. Und zwar nicht nur beim Thema Corona.
In Deutschland gilt vor dem Gesetz als jugendlich, wer schon 14, aber noch keine 18 Jahre alt ist. Das sind derzeit die Jahrgänge 2003 bis 2006. Laut Statistischem Bundesamt 3,03 Millionen Persönlichkeiten. Lauter Unikate. Mehr oder weniger in der Pubertät.
Normal unsicher
Was sie verbindet: Smartphone und Internet waren „immer schon“ da und Bundeskanzlerin Angela Merkel auch. Politisiert wurden viele durch die Schulstreiks von „Fridays for Future“. Und seit März bricht eine Pandemie in ihre Weltordnung ein. Unsicherheit ist die neue Normalität. Auch für Jugendliche. Meine Jugend dagegen war eher „safe“, weitestgehend sorgenfrei. Für Jugendliche heute fühlt sich das Leben wohl anders an.
Ein paar Stichworte: Angst vor Ansteckung, Schulschließungen und Homeschooling oft in kleinen Wohnungen, Kontaktbeschränkung und Verzicht auf Freizeit in Gruppen, sei es im Chor oder im Sportverein, auf normale Klassengemeinschaftsquerelen, auf das alltägliche Zusammensein mit der Peergroup. Verzicht auf Praktikum und Schüleraustausch und, ja, auch aufs Feiern.
Voll lost
Wieviel wurde abgesagt, verschoben, fiel aus. Erste Liebe, erster Rausch, alles wird extra-problematisch wegen Corona. Viele Mächtige der Welt, an denen sie vorbeisurfen, wirken auf sie mehr oder weniger verrückt. Oder überfordert. An wem orientiert man sich als junger Mensch?
Sich einsam zu fühlen, gehört zum Heranwachsen ohnehin dazu, und in den vergangenen Monaten verstärkte sich die Erfahrung von Isolation noch um den „Faktor C“.
„Lost“ ist gerade zum Jugendwort des Jahres 2020 gekürt wurde. „Voll lost sein“ steht für „keinen Plan haben“, unsicher sein, sich nicht auskennen. Ist das auch ein Marker für das Lebensgefühl Jugendlicher 2020?
Unter Pandemievorbehalt
Gelassenheit, die im glücklichen Fall mit mehr Lebenserfahrung wachsen kann, steht Jugendlichen jedenfalls noch nicht zur Verfügung. Der Rat, auf bessere Zeiten zu hoffen, ist auch eine Zumutung. Noch dazu, wenn die Zukunft so unkalkulierbar erscheint, und alles Träumen und Pläneschmieden unter Pandemievorbehalt steht. Dazu die allgemeine Verunsicherung der Erwachsenen, die sich wohl auch oft „lost“ fühlen, sogar, wenn sie Verantwortung zu tragen haben.
Ich verstehe die Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach Normalität, nach dem „über die Stränge schlagen dürfen“. Ich verstehe auch Misstrauen gegen Autoritäten und bewundere den starken Sinn für Gerechtigkeit vieler, die Empathie für den Wert von Leben, auch jenseits der eigenen Spezies, die sich in dem Engagement so vieler Jugendlicher für eine klimafreundliche Politik zeigt.
Virus der Entsolidarisierung
Und auch darum wundere ich mich über erhobene Zeigefinger und pauschale Verurteilungen „der Jugend von heute“. Allzu schnell wird eine ungute Stimmung geschürt, die zu einer Neuauflage des Märchens vom Virus der Entsolidarisierung zwischen den Generationen führt. Verdächtigung ist ansteckend.
Dabei hilft das wirklich niemanden. Die Verantwortung, auch für den Pandemieverlauf, ist unteilbar. Und Unvernunft ist nun wirklich nicht auf die Jugend beschränkt. Genauso wenig wie Vernunft das Privileg der Älteren ist. Wir brauchen, das kann man gar nicht oft genug sagen, das KnowHow und die angemessene Ansprache, die verschiedenen Sichtweisen, die Expertisen aller Generationen, um tragfähige Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit zu finden.
Warum nicht Schülerinnen und Schüler an der Organisation von Homeschooling beteiligen? Im Digitalen sind viele von ihnen um so viel erfahrener als wir Alten.
Corona, Jugend und Milieu
Wer bereits zugehört hat, sind die Macher der Sinus-Jugendstudie 2020. Sie kommen in ihrem Corona-Kapitel zu einem ganz anderen Ergebnis. Quer durch alle Milieus erweisen sich Jugendliche als rücksichtsvoll und sind in den allermeisten Fällen bereit zurückzustecken, wenn es um ihren eigenen Lebensstil, das Treffen von Freunden und andere bisherige Selbstverständlichkeiten geht. Nur eine Minderheit der Befragten hält die Corona-Maßnahmen für übertrieben. Ganz grundsätzlich haben Hilfsbereitschaft, Toleranz und Empathie einen hohen Stellenwert.
Jugendliche reflektieren die Gesellschaft, in der sie leben. Sie spiegeln sie wider u n d denken über sie nach. Und selbst, wo leichtsinniges und rücksichtsloses Verhalten bestürzen und eingedämmt werden müssen, darf nicht vergessen werden, genauer hinzuhören:
Zuhören, bitte!
Welche Geschichten verbergen sich hinter Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit? In welchen Erfahrungen wurzeln Widerspruch und Trotz? Und was für Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben sie? Zuhören lohnt sich. Immer.
Und, wie eingangs gesagt: Es gibt ein weiteres Kampagnen-Motiv, das auch ab dieser Woche plakatiert wird, und in Zeiten, in denen soziale Distanz gefordert ist, vielen aus der Seele sprechen wird. Alten und Jungen: „Unerhört! Diese Einsamen.“
Bleiben Sie behütet.