Dieser harte Lockdown ist unverzichtbar, und Solidarität trägt in diesen Zeiten unaufgeregt und selbstverständlich Maske.
Nur Kontaktbeschränkungen, regional begrenzte Ausgangssperren und andere schwerwiegende Eingriffe in das öffentliche Leben können hoffentlich dabei helfen, das Virus auszubremsen, die bedrohlichen Infektionszahlen zu senken, das Gesundheits- und Pflegesystem zu entlasten und Menschenleben zu retten.
Aber wichtig bleibt auch, dass unsere Solidarität die Maske wirklich nur über Mund und Nase zieht – und nicht über die Augen. Diese Lockdown-Zeiten brauchen nun Menschen, die genau hinsehen. Denn der Lockdown macht gewaltige soziale Unterschiede. Das ist ein Thema für die Politik und für jeden Einzelnen von uns.
Allein gelassen
Ich muss derzeit oft an ein Gespräch denken, das ich während meiner Sommerreise zu von Covid-19 besonders betroffenen Einrichtungen in Freiburg im Breisgau geführt habe. Sarah Gugel, die Leiterin der dortigen Bahnhofsmission, erzählte uns damals in bewegenden Worten, dass völlig allein gelassene Obdachlose in der schmucken Universitätsstadt während des Frühjahrs-Lockdowns gezwungen waren, sich am Fluss zu waschen. Dieses Bild ist mir nachgegangen.
Niemand hatte Obdachlose und ihre besonderen Lebensumstände beim ersten Lockdown auf dem Schirm – zunächst. Alle öffentlichen Hilfeeinrichtungen waren plötzlich geschlossen, und sie lagen und standen buchstäblich auf der Straße, und zwar ohne Unterstützung. Mit einer Handvoll ehrenamtlicher StudentInnen gelang es Sarah Gugel, wenigstens eine notdürftige Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten auf die Beine zu stellen.
Gabenzäune statt Tafel
Ich erinnere mich aus dem Frühjahr auch an Bilder von Gabenzäunen mit Lebensmitteltüten zum Mitnehmen. An die Not vieler, weil Tafeln ihr Angebot einschränken oder schlicht schließen mussten. Genau wie niedrigschwellige Begegnungsorte. Eine ganze informelle Infrastruktur ging in die Knie, die Menschen in schwierigen Lebensphasen sonst zuverlässig durch den Alltag hilft. Die Not, die es in unserem reichen Land gibt, wurde bitterer.
Und was im Frühjahr schon hart war, fühlt sich in der kalten dunklen Jahreszeit noch härter an. Im Winter schmeckt jedes Alleinsein noch schneller nach Einsamkeit. Das Gefühl der eigenen Schutzlosigkeit wächst mit der Menge an Stoffschichten, die es braucht, um sich warm zu halten.
Löcher im Budget
Es leben viele Menschen unter uns, die kein Zuhause haben oder in sehr beengten, stressanfälligen Verhältnissen leben. Aber auch einsame, psychisch kranke und von Armut betroffene Menschen leiden stärker unter den Kontaktbeschränkungen dieser Tage. Wer wenig Geld hat, kann sich keinen Schnelltest leisten. Selbst Zusatzausgaben für Masken oder Desinfektionsmittel reißen Löcher ins Budget.
Harter Lockdown verbindet sich für chronisch Kranke oder für Menschen mit Behinderung mit und ohne Assistenzbedarf mit viel Angst, und der Konsequenz, dass sie sich wochenlang nicht vor die Tür trauen. Die Patchworkfamilie im Haus mit Garten hat andere Sorgen, als die alleinlebende Mitfünfzigerin in ihrer Zweiraumwohnung.
Alleinerziehende oder Familien mit Jugendlichen, die in den eigenen vier Wänden zu wenig Platz haben, sind im Winter noch mehr auf öffentliche Räume und Alternativen angewiesen. Diese Aufzählung ist unvollständig.
Lockdown schließt aus
Es gibt viele, die Einkaufszentren weniger zum Einkaufen als zum Aufwärmen nutzen, um Freunde zu treffen, um auch mal etwas Schönes zu sehen oder Schwätzchen zu halten. Für sie ist das kein Luxus, sondern elementar. Mancherorts werden sie nicht nur des Hauses verwiesen, sondern direkt inhaftiert.
Wer die Stille einer Stadtbücherei zum Lernen nutzt, weil es zuhause keine Ruhe gibt, wer die Anonymität belebter Innenstädte schätzt, sein Einkommen mit Flaschensammeln aufstockt oder auf die Mildtätigkeit von Passanten angewiesen ist, den treffen menschenleere Innenstädte und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens härter.
Gewalt durch Enge
Aus den Beratungsstellen der Diakonie wissen wir, dass die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und von Kontakten in kleinen Wohnungen zu mehr Stress und Konflikten führen. Wenn man sich nicht mehr ausweichen kann und die unterstützenden Strukturen wegbrechen, münden Probleme in Partnerschaft und Familie schneller in Gewalt. Frauen und Kinder sind hier besonders gefährdet.
Auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie kommen bei den Kolleginnen und Kollegen in der Beratung an: Je länger die Corona-Krise anhält, umso mehr Menschen geraten in finanzielle Schwierigkeiten. Betroffen sind davon zunehmend auch Menschen mit mittleren Einkommen.
Unterfinanzierte Beratung
Der erwartete Ansturm wird nicht zu bewältigen sein. Denn die Soziale Schuldnerberatung ist – wie viele andere Beratungsdienste auch – schon jetzt chronisch unterfinanziert. Bereits vor der Corona-Krise konnten nur zehn bis 20 Prozent der überschuldeten Menschen beraten werden. Wird die Finanzierung bei klammen kommunalen Kassen nach dem Lockdown besser aussehen?
Mit dem Zeitpunkt, mit dem Deutschland in den harten Lockdown geht, sind die sozialen Einrichtungen und Dienste der Diakonie stärker gefordert, denn die Notlagen verschärfen sich. Vor allem eben für Obdachlose, Kinder und Familien sowie für pflegebedürftige alte Menschen oder Menschen mit erheblichem Assistenzbedarf ist die Arbeit der Diakonie häufig lebensnotwendig.
Und über all dem schwebt wie ein Damokles-Schwert nun die Sorge um eine nachhaltige Finanzierung der Einrichtungen.
Defizit und Pflegenotstand
Ja, die staatlichen Rettungsschirme helfen, aber sie kompensieren das Corona-bedingte Defizit nur in gut der Hälfte der sozialen Einrichtungen, wie eine noch laufende Umfrage der Bank für Sozialwirtschaft unter Akteuren des Sozial- und Gesundheitswesens zeigt.
Die Pandemie treibt auch den chronischen Personalmangel in der Pflege dramatisch auf die Spitze. Darüber habe ich erst kürzlich geschrieben. Es liegt auf der Hand, dass die überfällige Reform der Pflegeversicherung endlich das sozialpolitische Top-Thema werden muss. Aber auch in den Beratungsstellen geht es weiter um eine verlässliche und ausreichende Finanzierung der Arbeit für Menschen in Not.
Lockdown-Solidarität
In all diesen Bereichen ist nicht allein die Politik adressiert. Ich setze auf die Schwarm-Intelligenz unserer Gesellschaft. Es läuft großartig, wo die Zivilgesellschaft kreativ wird und aus der Krise eine Win-win-Situation kreiert: Leerstehende Hotels über die Wintermonate für Obdachlose zu öffnen, wie in Hamburg, ist ein ermutigendes, auch von der Diakonie mitgetragenes Projekt.
Die Solidarität trägt in diesen Zeiten Maske und schaut zugleich genau hin. In wenigen Tagen feiern wir Weihnachten. Keine Pandemie, kein Lockdown kann etwas daran ändern, dass die Botschaft der Engel aus der alten Geschichte vom Kind im Stall in unsere Zeit strahlt: Achtet aufeinander! Fürchtet euch nicht! Und helft mit, dass sich – auf dieser Erde, wie in der Nachbarschaft – weniger Menschen Gründe haben, sich fürchten zu müssen.
Achtet aufeinander
In Freiburg übrigens, so ist auf der Homepage nachzulesen, bleibt die Bahnhofsmission in den kommenden Monaten unter strengen Hygienebedingungen selbstverständlich geöffnet. Das sind gute Nachrichten für viele in diesem besonderen Advent.