Seit das Bundesverfassungsgericht den §217 StGB für verfassungswidrig erklärt hat, sind auch wir in Diakonie und Kirche aufgefordert, uns neu mit der Frage zu befassen: Wie begleiten wir die schwerstkranken Menschen in unserer Obhut, die ihr Leben nur noch beenden wollen – trotz bester palliativmedizinischer, psychotherapeutischer und seelsorgerlicher Begleitung? Begleiten wir sie in der Diakonie überhaupt? Oder sollen das lieber Andere machen?
Dass wir diese Debatte in und mit einer Gesellschaft führen, in der die Anzahl der Kirchenmitglieder weniger und die Ansichten vom guten Leben immer pluraler werden (und damit auch die Haltungen, Prägungen und Werte der vielgesichtigen Patient*innen, der Bewohner und Klienten in unseren Einrichtungen), ist notwendig.
Dilemmata der Debatte
Nach dem Urteil des höchsten deutschen Gerichts stellen sich viele Trägerverantwortliche dieser Frage: Ist es vorstellbar, dass wir auch diese Menschen begleiten, nicht allein lassen und auch nicht wegschicken? Und werden wir allein mit dem Angebot von speziellen palliativen Maßnahmen oder dem Sterbefasten dem Bitten dieser Menschen überzeugend gerecht?
Diese Fragen führen in Dilemmata, aber müssen wir sie angesichts dieses Urteils nicht neu überdenken? Ich meine: ja. Andere in der Diakonie können sich das überhaupt nicht vorstellen. Darum haben wir in der Diakonie Deutschland nun einen neuen Prozess der Meinungsbildung und des Austauschs über diese Fragen angestoßen.
Unterstützung verbessern
Ich selbst habe ungefähr 20 Jahre lang an Kranken- und Sterbebetten Patient*innen, Angehörige und Mitarbeiterteams begleitet. Und fast mein ganzes Berufsleben schon setze ich mich dafür ein, dass sterbenskranke oder hochaltrige Menschen verlässlich Zugang zu allen Formen der Unterstützung haben: zuerst zu bestmöglicher hospizlicher Begleitung und palliativer Versorgung. Hier ist in unserer älter werdenden Gesellschaft immer noch sehr viel zu verbessern.
Denn an erster Stelle steht für uns immer die Verletzlichkeit der Menschen, die sich uns anvertrauen: mit ihren Freuden und Leiden, mit ihrer Schwäche, ihrer Qual und eben auch mit ihrer Lebensmüdigkeit. Hier steht die Diakonie an vielen Orten und mit vielen ausgezeichneten Angeboten für seelsorgliches Gespräch, für psychotherapeutische Beratung und fachliche Hilfe.
Bestmögliche Prävention
Die meisten Suizide sind Ausdruck von Verzweiflung oder seelischer Not. Hier treten wir als Diakonie mit all unseren Möglichkeiten dafür ein, dass bestmögliche Prävention gewährleistet ist und möglichst selten eine Situation eintritt, in der Menschen keinen anderen Weg mehr sehen, als dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Selbstverständlich!
Wenn aber ein todkranker Mensch in seiner letzten verbleibenden Lebenszeit äußert, dass sein Leiden mit der Perspektive stetiger Verschlechterung nicht mehr lebbar für ihn ist, möchte ich das respektieren. Es ist vorstellbar, meine ich, und kann unter dem Dach der Diakonie auch möglich sein, diese Menschen zu begleiten.
Wie genau, darüber sollten wir sehr umsichtig diskutieren. Da stellen sich viele weitere Fragen, die nicht leichtfertig weggewischt werden dürfen. Aber es geht eben auch um die Frage, wie wir es mit der Achtung der Freiheit und Selbstbestimmung dieser Menschen halten wollen.
Verantwortlich Fragen stellen
Mich haben einige Stimmen erreicht, die fragen, ob ich mich in meinem Amt als Diakonie-Präsident überhaupt mit einer Meinung in diese Debatte einbringen dürfe? Ob ich nicht eher Zurückhaltung üben und mein Amt als neutraler Moderator dieser Fragen verstehen müsse?
Ich meine, dass ich auch die Verantwortung habe, solche Fragen zu stellen und solche Debatten über dieses Thema innerdiakonisch, innerkirchlich und öffentlich anzustoßen und zu ermöglichen: ergebnisoffene und selbstverständlich zugleich an unsere Überzeugungen und ethische Kriterien gebundene und sensibel zu führende Debatten.
Wörtlich heißt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „…ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben … schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“
Vielfalt der Perspektiven
Dieser höchstrichterliche Spruch wartet nun seit bald einem Jahr auf eine gesetzliche Regelung und verlangt nach einer breiten, sehr nachdenklichen Debatte, gerade vor dem Hintergrund einer schrecklichen und schuldbeladenen Geschichte unseres Landes, unserer Kirche und Diakonie.
Und darum haben Reiner Anselm, Isolde Karle und ich sie Anfang der Woche mit einem Essay in der FAZ neu angestoßen, der viele, zum Teil heftige, Reaktionen ausgelöst hat. Er ist das Ergebnis einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft, in der eben nicht „nur“ Theologen, sondern Männer und Frauen aus juristischer, theologischer und palliativmedizinischer Perspektive über die sich stellenden Fragen nachgedacht haben. Das war uns ein großes Anliegen.
Ich bin froh über die Debatte, die wir ausgelöst haben. Denn sie ist der Auftakt zu einem wichtigen Klärungs- und Selbstverständigungsprozess von sehr sensiblen Fragen. Leichtfertig und unvernünftig wäre es, diese Debatte nicht zu führen und die Bandbreite der Meinungen (auch in den Kirchen und den diakonischen Einrichtungen) auszublenden.
Kein unheilbarer Konflikt
Noch einmal: Es ist ein hochsensibles Feld, das wir als Kirche zudem vor dem Hintergrund einer doppelten Schuldgeschichte zu bearbeiten haben: der entsetzlichen Mittäterschaft bei den Patientenmorden während der NS-Diktatur und dem über Jahrhunderte oft unbarmherzigen Umgang mit Menschen, die ihr Leben, warum auch immer, selber beenden.
Aber gerade deshalb, und auch weil es um die persönliche Frömmigkeit sehr unmittelbar berührende Fragen geht, sollten wir nicht zulassen, dass diese Debatte als ein öffentlicher Showdown zwischen Personen oder Institutionen oder als unheilbarer Konflikt in der Kirche inszeniert wird.
Für viele scheint es fast unerträglich, an dieses Thema zu rühren. Das verstehe ich. Dennoch scheint es mir wenig hilfreich, sich in der aktuellen Situation hinter eine quasi unangreifbare Position des Lebensschutzes zurückzuziehen.
Frommes Pathos am Bett eines qualvoll sterbenden Menschen, der diese Qual trotz optimaler palliativer Versorgung nicht länger aushalten möchte, halte ich für mindestens genauso unerträglich.
Religion des Lebens
Das Christentum ist eine Religion des Lebens, und der menschgewordene, gekreuzigte und auferstandene Gott, den die Christenheit bekennt, verweist uns darauf die Schwachen zu schützen und das Ebenbild Gottes gerade im größten Leid und auch im Sterben zu erkennen. Das gilt. Und hat eine wunderbare Kultur der Sorge, der Barmherzigkeit und der menschlichen Zuwendung hervorgebracht.
Und genau darum wird der Meinungsstreit um dieses hochsensible Thema viele in den Kirchen in einer ähnlichen Intensität beschäftigen, wie Anfang der Neunzigerjahre die Debatten rund um den Paragraphen 218. Und noch etwas wird an diese Debatte um den Schwangerschaftsabbruch erinnern: Denn auch bei der Frage des assistierten Suizids werden wir schmerzhaft damit konfrontiert, dass wir uns in einem hochkomplexen Zusammenhang von Schuld befinden, aus dem es kein Entkommen gibt.
Komplexe Schuld
Ob wir nach Wegen suchen, Menschen bis zum Schluss begleiten zu können, die sich trotz all unserer palliativmedizinischen und seelsorgerlichen Angebote für den Freitod entscheiden, oder darauf beharren, dass es „so etwas“ bei uns nicht gibt und diese Menschen alleine lassen. Immer sind wir beteiligt.
Christinnen und Christen wissen genau das. Und deswegen stehen wir in unserer Gesellschaft der vielfältigen Werte und Meinungen besonders in der Verantwortung: Wenn wir aber wollen, dass unsere Argumente, Abwägungen und Bedenken auch in die gesamtgesellschaftliche Debatte ausstrahlen, müssen wir sie öffentlich führen.
Ich sehe uns in der Verantwortung daran mitzuwirken, dass alle diese Fragen, die Ängste und Bedenken auf den Tisch kommen. Dieses hochsensible Thema muss auf einem angemessenen ethischen Niveau und mit Respekt diskutiert werden. Aber es muss diskutiert werden.
Miteinander lernen
Auch im Gesamtverband der Diakonie werden wir diese Debatte darum offen führen. Und das tun wir ja bereits. Der Namensbeitrag in der FAZ ist e i n e Meinungsäußerung in dieser Debatte, die dazu beitragen möchte, einen gangbaren Weg zu finden.
Wir haben – das ist mir bewusst – ein breites Meinungsspektrum im Verband. Das wird jetzt noch sichtbarer und hörbarer werden, was ich ausdrücklich begrüße. Und ich setze darauf, dass wir uns in unserer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und den anderen Positionen mit Respekt begegnen. So können wir miteinander lernen. Das ist auch eine Qualität von Kirche.
Ich gehe davon aus, dass es beim Umgang mit dieser Frage – wie bei anderen Fragen auch – unter dem Dach der Diakonie immer einen gewissen Pluralismus geben wird. Ganz sicher aber wird niemand in unseren Teams je dazu gezwungen werden, sich an einer Begleitung oder einer Assistenz zum Sterben zu beteiligen.
Sorge, Segen und Struktur
Ich erinnere mich noch gut an die Ängste, die mir in Diakonie und Kirche in den frühen Tagen der Hospizarbeit begegnet sind: Damals ging im Verband, in der Kirche die Angst um, die Diakonie würde nun „gezwungen“, Sterbekliniken einzurichten. Auch hier mussten wir zunächst viel miteinander reden. Und das hat sich gelohnt: Diese Sorge hat sich in einen Segen verwandelt.
Entscheidend ist nach meiner Überzeugung, dass wir in allen unseren Häusern verlässliche Strukturen und Verantwortliche haben, die dafür sorgen, dass die sorgfältige verletzlichkeits- und lebenssensible Auseinandersetzung um die Fragen des Lebensendes unsere Arbeit weiterhin begleitet und auszeichnet. Und zwar dauerhaft und verlässlich.