„Corona-Knigge“ mit Fantasie

„Corona-Knigge“ – diese Formulierung habe ich neulich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk benutzt. Und schon ärgerten sich die ersten, weil vermutet wurde, die Diakonie wolle sich jetzt mit angestaubten Benimmregeln profilieren. Viele andere  zeigten Interesse und signalisierten Zustimmung.

Ich bin überzeugt, wir brauchen jetzt eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir die angemessene Balance zwischen dem notwendigen Schutz vor Infektion, einem damit veränderten Habitus und der dringend notwendigen Möglichkeit zur Teilhabe aller Mitglieder unserer Gesellschaft austarieren wollen.

Kind balanciert auf einer Steinmauer im Rhein
Die Balance zu halten und unerprobte Wege zu gehen – unverzichtbar beim Prozess aus der Corona-Krise zu einer Corona-Normalität. Foto: epd-Bild/Gustavo Alabiso

Corona-Normal-Modus

Diese Debatte zu führen kann und darf nicht allein Sache der Politik sein. Erst recht kann die Politik sie nicht allein entscheiden. Weil sich der Habitus, die prägenden Grundhaltungen in einer Gesellschaft, eben nicht auf dem Verordnungsweg verändern lassen. Darum brauchen wir eine breite Verständigung darüber, wie wir in der kommenden Zeit mit Corona miteinander umgehen wollen.

Wie die zwingende Priorität von Infektionsschutz und das Bedürfnis nach „Normalität“ und nach einem Alltag, in dem menschliche Nähe für alle möglich ist, von uns allen verantwortlich ausbalanciert werden kann. Wie wir aus einem Corona-Krisenmodus in einen Corona-Normal-Modus finden. Noch einmal: ohne bestimmte Menschengruppen von dieser neuen Normalität auszunehmen.

Risiko – für wen?

In den vergangenen Wochen wurde von einigen ernsthaft in Erwägung gezogen, Menschen in Alten- und Pflegeheimen dauerhaft zu isolieren. Das ist nicht nur ethisch und rechtlich hoch problematisch, das ist auch fachlich falsch. Denn dauerhafte Isolation zieht erhebliche psychische und medizinische Folgen nach sich.

Dazu kommt: Die zu schützenden „vulnerablen Gruppen“, über die immer gesprochen wird, sind ja keineswegs nur Menschen jenseits der sechzig.Ich habe den Eindruck, dass sich in der Debatte ein falsches Bild festgesetzt hat.

Es scheint immer noch nicht wirklich verstanden zu sein, dass zur sogenannten Risikogruppe viel mehr Menschen aller Altersgruppen gehören – und dass man ihnen ihr Risiko oft nicht ansieht: Vergleichsweise junge Menschen mit Diabetes oder Bluthochdruck, Menschen, die sich von einem Schlaganfall erholen oder vor der nächsten Chemotherapie stehen. Manche nehmen Medikamente, die die Abwehrkräfte schwächen, andere leiden an Asthma oder anderen chronischen Erkrankungen, die Liste lässt sich noch lange fortsetzen.

Hohe Mortalität

Jede und jeder von uns kennt solche Menschen – in der Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis, vom Sport oder aus der Nachbarschaft. Es sind viele, sehr viele Menschen. Sie wohnen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, mitten unter uns. Und solange es keinen Impfstoff gibt, leben sie mit einer besonderen, im Ernstfall lebensbedrohlichen Gefährdung.

Die Mortalität eines Menschen liegt ja immer bei 100 Prozent. Wir sind nur sehr gewohnt, unsere Sterblichkeit auszublenden. Genauso wie die immer gegenwärtige Zerbrechlichkeit menschlicher Gesundheit überhaupt.

Abschied vom Lebensstil

Solange es keinen Impfstoff oder kein Medikament gibt, muss das Gesundheitssystem in Alarmbereitschaft bleiben. Ein Kollaps wäre immer noch denkbar. Und mindestens solange werden wir eine andere, ungewohnte Disziplin im Umgang miteinander entwickeln. Es heißt, Abschied von unserem bisherigen Lebensstil zu nehmen. Ein notwendiger Abschiede – zumindest auf absehbare Zeit. Vielleicht für immer.

Und wenn Disziplin zu streng klingt: Wir brauchen jetzt mehr Freude an und Fantasie für neue Umgangsformen. Und gleichzeitig Verständnis dafür, dass der Verlust von Gewohnheiten auch schmerzt. Die verbreitete Erfahrung von Verlust, die notwendigen Abschiede lösen Trauerprozesse aus. Und jeder Mensch trauert anders.

Emotionale Zeiten

Es sind sehr emotionale Zeiten, die wir erleben. Es schmerzt, wenn die fast 85-jährige Alleinlebende fast nur noch über Telefon mit Vertrauten im Gespräch sein kann. Es verstört und schmerzt den dreijährigen Jungen, dass er seine Freunde und Freundinnen in der Kita nicht mehr sehen darf. Es schmerzt, wenn die Seelsorgerin nicht wie gewohnt zu Besuch kommen kann. Wir leben in mit Emotionen geladenen Zeiten.

Und in diesen besonderen Corona-Zeiten lernen wir, auf neue Art Respekt zu zeigen oder Freundlichkeit, ja, Liebe und Nähe auszudrücken. Wir verleihen  Gewohntem und Vertrautem eine neue Gestalt: Die einen versenden jetzt wieder Blumensträuße, die anderen malen der Omi einen Regenbogen vors Fenster.

Und gleichzeitig brauchen wir andere Umgangsformen – unter Nahestehenden, aber eben auch im öffentlichen Raum: Abstand halten, Hände waschen, die Hust-Etikette und das Tragen von Schutzmasken sind da nur ein Anfang.

Ich gehe davon aus, dass sich die Art wie wir in Schulen, Sportvereinen, Universitäten, Betrieben und Büros, in Theatern, Konzertsälen, in Stadien, Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempeln miteinander umgehen, verändern wird. Wir müssen eine neue Normalität erfinden, wenn wir in so etwas wie einen Alltag zurückfinden wollen.

Viele Relaunches

Wie vorübergehend oder dauerhaft das notwendig sein wird, das wissen wir noch nicht. Die Zeit, erfindungsreich zu werden, ist jedenfalls jetzt. Es ist wie ein gigantischer Relaunch. Oder besser: Es sind viele „Relaunches“, die in den unterschiedlichen Räumen unserer Gesellschaft parallel stattzufinden haben. In unterschiedlicher Geschwindigkeit.

Das ist ungewohnt und sehr anstrengend, aber unserer komplexen, föderal, in sich überlappenden Teil-Öffentlichkeiten organisierten vielfältigen Gesellschaft angemessen. In unserer Demokratie kann man gar nicht „von oben durchregieren“ – zum Glück. Es ist komplizierter und schwierig. Und das ist gut so – auch wenn der hohe Handlungsdruck für die Politik bestehen bleibt.

Corona-Knigge im Plural

In diesen komplexen Prozessen ist es eine öffentliche Gemeinschaftsaufgabe, für den jeweiligen Kontext eine Art „Corona-Knigge“ zu entwickeln, sich auf neue Leitfäden zu verständigen, die dabei helfen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen u n d einen Alltag zu leben, in dem Kinder in die Kita oder zur Schule gehen dürfen, Cafés und Läden geöffnet haben, und alte und kranke Menschen Besuch empfangen können.

Ein gewisser „Flickenteppich“ wird sich dabei nicht vermeiden lassen, aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm. Wir sollten uns – um im Bild zu bleiben – allerdings auf „die Webart“ des Teppichs verständigen.

Der Bezug auf den alten Knigge ist vielleicht auch deswegen nicht ganz unpassend, weil es eben auch eine Frage der Höflichkeit, des Respekts voreinander ist, wie wir miteinander umgehen.

Wie zeigen wir jetzt unsere Achtung vor der Andersartigkeit der anderen, deren Schwächen und Stärken wir in der Distanz gar nicht kennen? In Kontexten von Inklusion und Integration haben wir damit ja schon Erfahrungen gesammelt. Ob die der „Mehrheitsgesellschaft“ nun nützlich sein können?

Und vielleicht hilft es tatsächlich, auch in die Vergangenheit zu schauen und von den Umgangsformen der Urgroßeltern zu lernen? Man muss ja nicht gleich das ganze Weltbild übernehmen. Oder hilft es, bei anderen Kulturen zu lernen, die schon immer mehr Wert auf Abstand gelegt haben, ohne deswegen unfreundlich zu sein?

Die angedeutete Verbeugung, der Respekt vor dem Platz, den ein anderer Mensch benötigt, um sich wohl und sicher zu fühlen, kann große Wertschätzung ausstrahlen. Und kulturell Codes lassen sich ändern. Auch vorübergehend. Die Jugendkulturen machen uns das vor.

Regeln der Freiheit

Einen oder eine Vielzahl „Corona-Knigge“ zu erfinden, meint: Liebgewonnene Gewohnheiten neu denken, genauso wie scheinbar alternativlos erscheinende Routinen – damit das Leben in Respekt und mit Rücksicht auf die Anderen weitergehen kann. Neue Regeln formulieren, die Freiheit ermöglichen, auch für die Anderen: Der Mund- und Nasenschutz gehört dazu.

Es wird auch helfen, neue Fragen zu stellen: Wie notwendig ist diese Fahrt in die Stadt wirklich, war jede Dienstreise notwendig? Was wäre, wenn das Theater mit halbleerem Saal als ausverkauft gilt – und die anderen per Videokonferenz schauen?

Ist ein umschichtiger Schulbesuch für kleine Klassengruppen nicht auch auf Dauer ein überzeugender Weg, wenn das Homeoffice für Väter und Mütter flächendeckend normaler wird? Oder Einlassbeschränkungen in Kaufhäusern? Freie Sitzplätze in der Straßenbahn?

Vielleicht verständigen wir uns in der Nachbarschaft rund um ein Altenheim oder die Wohngruppe für Schwerstbehinderte auf feste Zeiten, zu denen die alten oder jungen Menschen spazieren gehen können, und wir anderen zu Hause bleiben? Es ist Zeit für neue Lösungen, neue Antworten auf neue Fragen.

Das Wohl der anderen

Die neue Zeitrechnung mit dem neuartigen Corona-Virus gilt weltweit. Es gibt keine Erfahrung, auf die wir zurückgreifen können. Wir alle machen Erfahrungen mit der Corona-Erfahrung und tasten uns mit neuen sozialen und kulturellen Erfahrungen Schritt für Schritt gemeinsam weiter – aus der Corona-Krise heraus in eine Corona-Normalität hinein.

Vielleicht sogar auch in eine neue Phase unserer westlichen Gesellschaften, in der neben die unbedingte und gefeierte Betonung der Freiheit des Einzelnen das Wohl der Anderen und deren Schutz tritt – mit neuer Verbindlichkeit und Notwendigkeit Das wäre gar nicht so schlimm.

Bleiben Sie heiter und behütet.