In dieser Woche rücken die Rechte der Kinder ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Es gibt Empfehlungen für eine stufenweise behutsame Öffnung von Kindertagesstätten. Das ist ein Fortschritt. Die Bilder aus Spanien mit den ausgelassen rennenden und rollerfahrendenden Mädchen und Jungen sind vielen nah gegangen. Sechs Wochen Ausgangssperre – in einem Kinderleben ist das eine Ewigkeit.
Was soll eine Dreijährige über eine Welt denken, in der Kita-Freunde und Großeltern plötzlich unerreichbar sind und Vater und Mutter täglich angespannter wirken? Wie ist es für den Siebenjährigen, der seit Wochen Schule und Hort vermisst, weil es dort Antworten auf neugierige Fragen, einen Bolzplatz und ein warmes Mittagessen gibt? Was bedeutet es für Kinder in Deutschland, dass ihre Würde unantastbar ist, wie es in unserem Grundgesetz heißt? Wie erleben sie konkret, dass sie Rechte haben?
Schäubles Bedenken
An der Situation der Kinder wird auch konkret, was Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Interview mit dem „Tagesspiegel“ zu bedenken gegeben hat:
„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
Ich bin froh über die Klarheit dieser Worte. Über die kluge Besonnenheit, die aus dem insgesamt lesenswerten Interview spricht u n d über die Debatte, die es ausgelöst hat.
Wir brauchen jetzt solche Debatten, die uns helfen, in einer Welt mit Corona die richtigen Prioritäten zu setzen – und zwar regelmäßig. Denn wir wollen ja gemeinsam gangbare Wege in eine Corona-Normalität finden, die unserer Demokratie und ihren Werten Rechnung tragen.
Demokratische Bankrotterklärung
Es wäre eine demokratische Bankrotterklärung, wenn in Corona-Zeiten an die Stelle von konstruktiver Auseinandersetzung der unterschiedlichen Interessengruppen eine Art virusbedingte Notstandsgesetzgebung treten würde, die sich einer regelmäßigen Überprüfung entzieht.
„Von oben“ durchzuregieren mag für kurz begrenzte Ausnahmezustände sinnvoll und auch statthaft sein. In unserem Land ist dieser Regierungsstil dank des Föderalismus ja ohnehin nicht einfach. Auf Dauer trägt und überzeugt er ohnehin nicht. Und das Virus wird uns ja noch geraume Zeit begleiten. Deshalb muss die Corona-Krise in einen neuen verfassungsgemäßen Normalzustand übersetzt werden. Auch wenn sie unser Land tiefgreifend verändert.
Hochrelevante Fragen
Öffentliche und auch regelmäßige parlamentarische Debatten über diese Fragen gehören unbedingt dazu. Die sollte die Demokratie nicht den Talkshows überlassen. Darum sollte das Infektionsschutzgesetz auch unter diesem Aspekt dringend nachgebessert werden. Politische und sozialethische Debatten im Parlament zu diesen hochrelevanten Fragen für unser (auch zukünftiges) Zusammenleben können den ermüdeten Parlamentarismus sogar wieder quicklebendig und attraktiv machen.
Die Veränderungen werden derzeit in allen Lebensbereichen gleichzeitig erlebbar, sind aber in ihren Folgen nicht immer sofort versteh- oder formulierbar. Und nicht alle, die von der Veränderung betroffenen sind, können sich gleichzeitig und mit der gleichen Lautstärke öffentlich Gehör verschaffen – wenn sie überhaupt gehört werden.
Stimmen, Streit und Meinungen
Die Stimmen der Kinder sind in den vergangenen Wochen kaum öffentlich durchgedrungen. Nur im Zusammenhang mit systemrelevanten Eltern gerieten sie der Öffentlichkeit in den Blick. Jetzt erkennt man ihre ganz eigene Not und sucht danach, Schritt für Schritt aus dem Lock-Down herauszufinden – und gleichzeitig den Infektionsschutz zu gewährleisten.
Das ist mühsam. Dafür braucht es erfahrungsgesättigte pädagogische psychologische, medizinische, juristische, sozialwirtschaftliche Expertise, es braucht Hygiene-Konzepte, Überlegungen zu finanziellen und personellen Bedarfen, organisatorischen Einfallsreichtum, Rechtssicherheit und auch Improvisationstalent.
Es braucht auch den Streit der Meinungen, der in diesen Tagen geführt wird, damit auf der politischen Ebene gute Entscheidungen getroffen werden können. Und diese Ergebnisse müssen dann vor Ort umgesetzt, in nicht allzu ferner Zukunft überprüft und dann wahrscheinlich nachjustiert werden. Vor allem braucht es auf diesem Weg aber unsere Bereitschaft, den Bedürfnissen der Kinder Aufmerksamkeit zu schenken.
Flickenteppich statt Auslegeware
Durchzuregieren hieße in einer solchen Situation im schlechtesten Fall, mit dem Zuhören vorschnell aufzuhören, um rasch allgemeinverbindliche Fakten schaffen zu können. Womöglich auf der Basis der Stimmen, die sich am erfolgreichsten Gehör verschaffen. Auch darum ist der Verzicht auf die regelmäßige demokratische Kontrolle durch das Parlament gerade in diesen schwierigen Zeiten ein No-go.
Ja, es ist kompliziert und komplex. Und es wird bei den Kindern zum Beispiel noch komplizierter, weil es beim Umgang mit Kitas und Schulen sehr angebracht ist, auf der kommunalen Ebene entscheiden zu lassen, was vor Ort sinnvoll und möglich ist.
Ich höre sie schon, die bittere Klage vom „Flickenteppich“ in Deutschland. Ein Flickenteppich ist aber keine Schande, sondern, wie in diesem Fall, die beste Antwort des Föderalismus aus die sprichwörtliche „Lage vor Ort“. Und eine einheitliche „Auslegeware“ für alle passt nicht zu einer offenen demokratischen Gesellschaft der Vielfalt, die wir trotz Virus ja bleiben wollen.
Leben in Würde für alle
Wolfgang Schäuble argumentiert in die richtige Richtung: Es wird in der kommenden Zeit immer wieder neu darum gehen, Infektionsschutz, Freiheitsrechte und Selbstbeschränkung so auszubalancieren, dass ein Leben in Würde in einer Welt mit Corona für alle möglich bleibt. Nicht nur in Deutschland.
Bleiben Sie behütet.