Eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik beginnt im Kopf. Sie braucht die richtigen Konzepte und den Einsatz von vielen engagierten Menschen. Aber vor all dem braucht sie eine innere Haltung. Ein ethisches Fundament, auf dem die handelnden Menschen stehen. Und genau daran mangelt es aktuell in der deutschen und in der europäischen Flüchtlingspolitik. Sie droht zu einer Grenzsicherungs- und Abschiebungspolitik zu verkommen.
Und das, obwohl die unverletzliche Würde des Menschen und das Recht auf Asyl Grundrechte sind, obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention Maßstäbe setzt. Doch leider scheint die orientierende Kraft der in deutsches und internationales Recht gegossenen Werte oft erschreckend schwach.
Genauso wie die Erinnerung an deren Genese im Holocaust und dem historischen Versagen der damaligen internationalen Flüchtlings- und Asylpolitik. Auch darum ist die europäische Flüchtlingspolitik derzeit zu oft beschämend, um nicht zu sagen menschenunwürdig. Damit werden wir uns in der Diakonie nie abfinden.
Haben oder Sein
Auch das Menschenunwürdige beginnt im Kopf, lange vor jedem Handeln. Wer die Überzeugung pflegt, dass viele der Menschen, die in Europa Zuflucht und Zukunft suchen, keine Probleme haben, sondern Probleme sind, wird sich schwer damit tun, nach Wegen zu suchen, ihnen Ankunft und Aufenthalt zu erleichtern. Grundrecht auf Asyl hin oder her.
Im Gegenteil, allzu oft wird einer verdrehten Logik des Misstrauens, der Abschreckung und der Angst gefolgt: „Die sollen sich nur nicht heimisch fühlen.“ Diesem Mantra folgend wurde und wird heute Flüchtlingspolitik gemacht, mit fatalen Folgen für die Betroffenen und für unser Land. Denn in der Hoffnungslosigkeit, die wir heute säen, keimen die weltweiten sozialen Probleme von morgen.
Logik des Misstrauens
Das Stichwortregister des abschreckenden Vokabulars wird länger: Massenunterkünfte, Arbeits- und Beschäftigungsverbote, undurchschaubare Behördenanforderungen, Beschränkung der Freizügigkeit, unzureichende Gesundheitsversorgung, Trennung von Familien, Kriminalisierung und immer wieder neu befristete Duldungen, statt eines Bleiberechts – selbst nach Jahren und selbst für gut integrierte Männer und Frauen.
So schleicht sich eine Logik des Misstrauens, mit der die „Asylbetrügerin“ vom „echten Flüchtling“ geschieden werden soll, tief in die Integrationspolitik hinein und trifft Menschen, die ohnehin unter schwersten Bedingungen – als Fremde in der Fremde – zurechtkommen müssen.
Auch auf der Innenministerkonferenz, die heute in Erfurt zu Ende geht, wird dieses Misstrauen wieder gewirkt haben. Nicht unwidersprochen, aber – wie die Erfahrung zeigt – mit Macht.
Mitverantwortung
Selbstverständlich können weder Deutschland noch Europa die Migrationsprobleme auf der Welt alleine lösen. Und nicht alle, die kommen, können bleiben. Aber wir haben eine Mitverantwortung für Menschen, die vor unsäglichem Leid, Verfolgung und Krieg fliehen.
Fast 80 Millionen gewaltsam Vertriebene weltweit sind zumindest von der UNHCR registriert. Und die wegen Klimaveränderungen fliehen, sind dabei noch nicht einmal erfasst. 85 Prozent von ihnen finden Schutz in den Nachbarländern im globalen Süden, nicht bei uns im reichen Westen.
Wir müssen ein politisches Interesse daran haben, dass die Situation in diesen Ländern, die sich als Nachbarländer von Kriegsregionen wie Syrien weit über das deutsche oder europäische Maß engagieren, nicht implodiert.
Abschieben mit Corona
Aber ganz oben auf der politischen Agenda steht eben nicht, dass es für Bund und Länder hohe Zeit ist, die prekäre Lage der Geflüchteten, zum Beispiel in Griechenland oder in Syrien, in den Blick zu nehmen. Stattdessen geht es vor allem darum, wie sich die wegen der Corona-Pandemie ausgesetzten Abschiebungen endlich wieder in Gang setzen lassen.
Dabei gäbe es so viel Anderes zu besprechen: die unsäglichen Zustände in den griechischen Lagern, das Sterben auf dem Mittelmeer, die unerträgliche Verzögerung des rechtlich gesicherten Familiennachzugs für Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, oder die Frage, wie der Gesundheitsschutz der Geflüchteten in den Massenunterkünften flächendeckend gewährleistet werden kann, damit diese nicht zu neuen Corona-Hot-Spots werden.
Konsequente Ignoranz
Noch einmal: Wer im fremden Menschen nur eine Gefahr wittert, wird nicht an Integration interessiert sein, sondern verharrt in Abwehrstellung und sucht nach Wegen, diese Menschen möglichst bald und möglichst schnell wieder los zu werden.
Und hat sich das populistisch aufgeblasene Narrativ aus Ängstlichkeit und Misstrauen erst einmal tief in den Köpfen eingenistet, gibt es im „christlichen Abendland“ keinen Platz mehr für Fakten und politische Vernunft und – ja – auch nicht für Nächstenliebe.
Mittlerweile wird fast jede Sachdebatte im kalten Schatten dieses Misstrauensklimas geführt. Das führt zu oft zu kurzsichtigen Entscheidungen, die langfristigen Schaden anrichten für den sozialen Frieden – auch in unserem Land. Wegen halbherziger Integration zum Beispiel. Seit Jahren weisen wir in der Diakonie gemeinsam mit anderen auf die langfristigen Folgen dieser Halbherzigkeit hin, aber viel zu oft „predigen“ wir tauben Ohren.
Migrationspaket mit Folgen
Zur Erinnerung: Vor gut einem Jahr wurde das „Geordnete Rückkehr-Gesetz“ zur erleichterten Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer verabschiedet, gemeinsam mit einer Reihe anderer Asyl- und Migrations-Gesetze. Ein trauriges Beispiel.
Durch die Symbolpolitik der Abschreckung und Abschottung hat sich die Situation der Schutzsuchenden in Deutschland im vergangenen Jahr drastisch verschlechtert. Denn das von kritischen Stimmen so betitelte „Hau-ab-Gesetz“ ebnet zu wenig Wege für eine frühe Integration, es konfrontiert aber von Anfang an mit dem Druck zur Rückkehr.
Druck zur Rückkehr
Bei Abschiebungen und Inhaftierungen zum Zwecke der Abschiebung werden in diesem Land Familien auseinandergerissen und Kinder in Länder geschickt, in denen diese noch nie gelebt haben. Es gibt sogar Abschiebungen aus Krankenhäusern, Schulen und Ausbildungsstätten.
Bereits traumatisierte Menschen müssen Abschiebungen mit Polizeigewalt mitansehen, werden noch länger in Massenunterkünften festgehalten und sind mit Arbeitsverboten belegt. Teilweise wird ihnen sogar das Existenzminimum entzogen.
Und wir reden nicht nur über die, deren Fall geprüft wurde und die in einem „ordentlichen Verfahren“ rechtmäßig abgelehnt werden. Deren Zahl ist vergleichswiese gering. Nein, auch anerkannte Flüchtlinge unterliegen nach wie vor einer Wohnsitzauflage und dürfen ohne Genehmigung der beteiligten Kommunen nicht umziehen.
Dabei sollten diese Menschen laut Flüchtlingskonvention genau dieselben Rechte wie deutsche Staatsangehörige haben.
Unter Generalverdacht
Auch dieses Migrationspaket reflektiert also in weiten Teilen ein Klima der Angst und des Misstrauens: Es stellt alle Geflüchtete unter einen Betrugs-Generalverdacht und macht ihnen so gezielt das Leben schwer.
Ob es um den Ausschluss von Sozialleistungen geht oder um die „Duldung light“, die allen Menschen zunächst Böswilligkeit unterstellt, denen es nicht gelingt, der „Passbeschaffungspflicht“ nachzukommen, und pauschal Ausbildung und Arbeit verbietet.
Dabei kann es sehr viele Gründe geben, warum es schwierig sein kann, die eigene Identität zu belegen: Vielleicht kommt man aus einem Kriegsgebiet und ist schon seit Jahren auf der Flucht? Vielleicht kennt das Herkunftsland keine Geburtsurkunden. Vielleicht befürchtet man Schwierigkeiten für Freunde und Verwandte, wenn man sich an die Botschaft des Herkunftslandes wendet.
Nach rechts offen
Im vergangenen Jahr hat die Diakonie mit vielen Partnern in der Zivilgesellschaft vor den mittelfristigen Folgen dieses Migrationspakets gewarnt. Vergeblich. Denn es sollte politische Entschlossenheit demonstriert werden. Auch, um die rechten Poltergeister und ihre Anhänger*innen zu beschwichtigen, die in jedem Geflüchteten den Untergang des Abendlandes wittern.
„Seht her, wir greifen durch“, stand überall zwischen den Zeilen einer bewusst demonstrativen Politik. Ob es bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr dank solcher Manöver einen rechten Wähler weniger gab? Ich wage das zu bezweifeln. Es bleibt dabei: Angst, auch Ängstlichkeit, ist der schlechteste aller Ratgeber.
Ernüchternde Bilanz
Heute liest sich die Bilanz ernüchternd: Ob das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz in der vorliegenden Form wirklich greift, bleibt abzuwarten. Es ist erst seit dem 1. März in Kraft. Auch ob es gelingen wird, Geflüchtete besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, lässt sich noch nicht sagen.
Sicher ist: Die Massenunterkünfte in Deutschland laufen Gefahr, zu Corona-Hotspots zu werden, wenn sie nicht geschlossen werden. Die humanitäre Situation in den Lagern in Griechenland bleibt katastrophal, im Mittelmeer ertrinken Menschen, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik ist – wenn überhaupt – Zukunftsmusik. Und das Klima der Ängstlichkeit und des Misstrauens scheint ein stabiles Hoch zu haben. Jedenfalls unter den politischen Hasenfüßen in den Innenministerien.
Partnerin der Menschenfreundlichkeit
Der harten Linie aus dem Hause Seehofer zum Trotz gehen Städte wie Berlin und andere Bundesländer menschenfreundlich voran und wollen auf eigene Initiative Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufnehmen.
Die Diakonie versteht sich als Partnerin dieser Menschenfreundlichkeit. Wir stehen im ganzen Bundesgebiet mit unserem Knowhow bereit, um mit daran zu arbeiten und zu unterstützen, dass die Menschen, die bei uns Zukunft und Zuflucht suchen, auch wirklich ankommen können.
Wir beraten sie, wir unterstützen sie, wir arbeiten gemeinsam an Möglichkeiten und Chancen. Damit Integration gelingen kann. Denn nur, wo sie gelingt, profitiert die ganze Gesellschaft. Weil wir Mitbürgerinnen und Mitbürger gewinnen, die wie die Alteingesessenen ihre Lebenserfahrung, ihre Arbeitskraft, ihren Humor, ihre Streitlust und ihre Ideen in die Gestaltung unserer Gemeinwesen einbringen werden.
Mindset für Integration
Eine menschenwürdige Flüchtlings- und Integrationspolitik entsteht im Kopf. Mit dem richtigen „Mindset“ lässt sich Integration mit guten Perspektiven gestalten: Möglichst kurze Zeiten in Aufnahmeeinrichtungen und schneller Zugang zu Arbeit, Schule und Wohnung wären ein Anfang.
Und in der Asylverfahrensberatung empfiehlt sich auch nach einer vom Bundesinnenministerium vor Jahren in Auftrag gegebenen Studie das Modell, das sich in der Vergangenheit rundum bewährt hat: unabhängig, durch die sozialen Dienste. Das verbessert auch die Qualität der Asylverfahren, wie ein Projekt mit dem Bundesamt für Migration und Flucht zeigt. Und schafft Vertrauen statt Misstrauen – auch bei den Antragstellenden.
Aufgeben gilt nicht
Aufgeben gilt nicht. Die Menschen, die Zuflucht und Zukunft suchen, brauchen eine Perspektive. Und darum hören auch wir in der Diakonie nicht auf, weiter Vorschläge zu machen – für eine politisch sinnvolle und menschenwürdige Flüchtlingspolitik mit Köpfchen – und mit Herz.