Der Geist Gottes braucht keine Kirche. Das ist für Menschen, denen die Kirche so am Herzen liegt, gleichermaßen niederschmetternd wie befreiend. Wir dürfen uns Pfingsten daran erinnern, dass schlechtbesuchte Gottesdienste, nicht besetzte Pfarrstellen, sogar leere Kassen und die wachsende Zahl von Kirchenaustritten zwar eine schwere institutionelle Krise markieren, aber keine Krise des Geistes Gottes.
Der Geist der Freiheit, der in den Schwachen mächtig sein möchte, ist krisenfest. Es ist derselbe Geist, der in der biblischen Schöpfungserzählung über den Wassern der Urflut schwebt: die „Ruach„, die Friedhofsruhe nicht kennt, die lebendig macht, die sich an das Leben bindet – und sei es noch so verletzlich.
Kein Geist der Furcht
Von den Gottesknechtsliedern im Jesajabuch spannt sich ein weiter (Regen-)Bogen über den Ostermorgen bis hin in unsere unruhige Gegenwart. Der Geist Gottes ist kein Geist der Furcht, sondern ein Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (2.Tim. 1,7). Menschen fürchten sich, auch getaufte Menschen, doch wo der Geist inspiriert, finden sich immer wieder Wege durch diese Furcht hindurch.
Zum Glück spricht der Geist Gottes viele Muttersprachen. Sein Wortschatz endet nicht an Bekenntnisgrenzen, sprengt Volks- oder Religionszugehörigkeiten. Im 2. Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, dass sich alle „Gottesfürchtigen“ angesprochen fühlen. Und auch wenn der Begriff „Gottesfurcht“ im 21. Jahrhundert etwas aus der Zeit gefallen wirkt: Eine staunend-mutige, also demütige Haltung angesichts der Herausforderungen des Daseins beseelt auch viele säkularisierte Gemüter. Ist das nicht auch eine Frucht der Gottesfurcht? Wie gesagt: Der Geist Gottes braucht keine Kirche.
Die Nächsten erkennen
Der Geist Gottes inspiriert alle Menschen guten Willens, die in den anderen den Nächsten erkennen. Der Geist der Freiheit treibt sie an, Wege zu finden, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit verlässlich miteinander zu verbinden. Im nervenaufreibendem alltäglichen Kleinklein, aber auch im großen, gesamtgesellschaftlichen Miteinander. Wenn es darum geht, Strukturen und Regeln zu schaffen, die allem, was lebt,– der ganzen Schöpfung – Leben in Würde zu ermöglichen, wirkt der Geist Gottes. Rechtsstaatlichkeit ist eine der besten Früchte der Geistkraft. Demokratie auch. Oder das Engagement von engagierten Klimaschützern.
Wo dieser Geist wirken darf, wo mit ihm gerechnet und vielleicht sogar kalkuliert wird, blüht das Leben in seiner gottgewollten Vielfalt auf. Um diese Verheißung dreht sich die ganze Welt. Auch in den krisenhaften Zeiten, in denen wir heute leben. Klimawandel, Kriegsfolgen, Inflation setzen das nicht außer Kraft. Das glaubt die „verrückte“ Christenheit (Apg. 2), auch wenn unser Glaube manchmal klein, mut- und fantasielos ist und sich an schrecklich liebgewordene altersschwache Strukturen förmlich klammert. Auch das ist sehr menschlich.
Produktive Krisen
Doch Pfingsten dürfen wir uns daran erinnern lassen, dass wir es besser wissen können: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf.“ (Römer 8,26) Oder wie es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) formuliert hat: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Der Geist Gottes braucht keine Kirche. Er braucht verschiedene, unterschiedlich begabte und begrenzte Menschen, die sich kümmern und bewegen lassen: lebendige Gemeinschaften, zukunftsoffene Genossenschaften, Gemeinden und Kooperationspartner.
In den Städten und Dörfern, durch die der Apostel Paulus reiste, der so viel über diesen Geist nachgedacht hat und dessen Texte auch 2000 Jahre später noch Menschen beschäftigen, gab es keine einzige Kirche. Aber es gab von Christus begeisterte Menschen, die anders miteinander umgingen, als es in der Mehrheitsgesellschaft üblich war.
Parallelgesellschaft des Geistes
Ihr echtes Interesse für andere, ihre Liebe, endete ausdrücklich nicht an den Grenzen der eigenen Sippe. In ihren Gruppen sollten Geschlecht, soziale Position, Familien- oder Volkszugehörigkeit keine Rolle mehr spielen. Jesus Christus, ihr Meister, lehrte sie, Trennendes zu überwinden. Er hat diese Idee von universaler Geschwisterlichkeit in ihre und unsere Herzen gesät.
Die sogenannten Ur-Christen sorgten sich um einander u n d um „den kranken Nachbarn auch“. Sie verweigerten sich manchen Konsumgewohnheiten, sahen Kulte eher skeptisch und verzichteten deswegen auch auf politische Karrieren. So entwickelte sich nach und nach eine schwer zu greifende Parallelgesellschaft, mit der ein anderer Stil in die Kultur einsickerte.
Als sich die Machtverhältnisse im 4. Jahrhundert dann drehten – Stichwort Staatskirche – entstanden neue Probleme. An den Spätfolgen arbeiten wir uns in den Kirchen gewissermaßen immer noch ab.
Vielfältiger Schatz
Pfingsten erinnert uns daran, dass der Geist Gottes weht (- wo er will). Nicht nur, aber auch, in den vielen verschiedenen Räumen der Kirchen, auch heutzutage. Gott sei Dank. Was für ein vielfältiger Schatz an Menschen, an Gebäuden und Gewohnheiten, Festen und Formaten, an Worten und Bildern. Ein begeistertes Wir, das immer noch – wo der Geist wirken kann –trennende Grenzen zwischen Menschen und Herzen zu öffnen vermag.
So weit, so wunderbar. Und so herausfordernd: Denn dieser Geist war und ist institutionell erstaunlich unabhängig: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist?“ (1. Korinther 6,19), formulierte besagter Paulus. Er schlenderte durch antike Städte, in denen riesige Tempel standen, eindrucksvolle Bauwerke mit Säulen, hohem Personalaufwand und einem beträchtlichen Umsatz an Waren und Dienstleistungen. Doch der Geist, von dem Paulus schreibt, ist kein Geist der imponierenden Immobilien. Er ist mobil, er dient in „Atemhäusern“ (Rose Ausländer).
Im Atemhaus
Was für ein kühner Gedanke, die vergänglichen Alltags-Körper von uns sterblichen und zweifelnden Menschen als Tempel Gottes zu behaupten. Alle Körper sind Gotteshäuser – gesund, alt, krank, behindert, übergewichtig, suchtkrank, versklavt oder frei. Das ist der Zuspruch und der Anspruch des lebendigen Geistes. Und wenn das stimmt, wird alles, was ein geistoffener Mensch tut- oder bewusst lässt – zum Tempeldienst für den Geist Gottes. Und zwar Hand-, Herz- und Kopfarbeit. Was heißt das für unsere innerkirchlichen Strukturdebatten der Gegenwart?
Ich hoffe, dass dieser Geist uns Kopf, Herz und Hände öffnet, uns inspiriert für die schwierigen Aufgaben, die unsere Zeit uns aufgibt. Wir setzen auf die Freiheit, „out of the Box“ zu denken, auf Kraft, Liebe, Mut und Besonnenheit, auf zündenden Idee und neuen Gemeinschaftssinn. Und haben – nicht zuletzt – keine Angst vor vermeintlichen Peinlichkeiten oder unangepasstem Verhalten.
Frohe Pfingsten!
Denn in manchen Augen gleicht das Wirken des Geistes tatsächlich einer Schnapsidee. Das gehört auch dazu. Vergleiche Apostelgeschichte 2. Und trotzdem singen wir in den Kirchen an diesem Wochenende wieder:
„O, komm, du Geist der Wahrheit!“
Hoffen wir, dass er uns beim Wort nimmt. – Frohe Pfingsten!