Der Stresstest für den gesellschaftlichen Zusammenhalt kennt keine Sommerpause. Mit ungebrochener Wucht geht er weiter. Ob wir ihn als offene, soziale und demokratische Gesellschaft bestehen werden, dafür stellen wir jetzt gemeinsam die Weichen.
In einer sozialen Marktwirtschaft heißt das: Die Einkommensstärkeren tragen eine Mitverantwortung für das Wohl der Einkommensschwächeren. Unser Gesellschaftsmodell funktioniert nur mit dieser Solidarität. Eigentlich. Aber: Können sich die Schwächeren in unserem Land in dieser herausfordernden Situation auf die Solidarität der Stärkeren verlassen? Das ist eine systemrelevante Frage.
Enorme Herausforderungen
Der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine, der Klimawandel und das Artensterben, der Hunger in vielen Ländern des Südens, Covid-19, die weltweit gestörten Lieferketten – das sind die bekannten enormen Herausforderungen, mit denen wir im Zeitalter der Nebenfolgen in der absehbaren Zukunft umzugehen haben.
Dazu kommen die nicht aufzuschiebende sozial-ökologische Transformation, die bedrohlich unsoziale Inflation und die dramatische Steigerung der Energiekosten. Nicht erst der kommende Winter wird für sehr viele Menschen in unserem Land sehr hart.
In der vergangenen Woche haben wir mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) die Ergebnisse der von der Diakonie Deutschland beauftragten Studie „Belastung einkommensschwacher Haushalte durch die steigende Inflation“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie ist erfreulich breit diskutiert worden und für einige Tage standen tatsächlich die Existenzprobleme und die Zukunftsängste der Menschen mit wenig Einkommen, kleiner Rente oder Unterstützungsbedarf im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Es fehlt das „Go!“
Jetzt müssen der Aufmerksamkeit Taten folgen. Umsetzbare Vorschläge für eine zielgenaue Unterstützung der Schwachen hat die Diakonie gemacht, einiges hat einen ersten Wiederhall gefunden in der Politik. Aber es geht mir zu langsam. Und ich fürchte, das hat nicht nur mit dem Sommer zu tun, sondern auch damit, dass ein klares „Go“ aus der Gesellschaft fehlt. Sollte es kein Konsens mehr sein, dass die Stärkeren die Schwächeren stützen?
Wo sind die verlässlichen Partner:innen im Kampf für den Zusammenhalt, das soziale Miteinander? Wie ernst ist es auch den 10 Prozent der Einkommens- und Leistungsstärksten im Land mit der Solidargemeinschaft? Tragen alle mit, dass der sozial-ökologische Transformationsprozess, den wir in unseren Gemeinwesen in diesen Krisenzeiten ans Laufen zu bringen haben, so gestaltet werden muss, dass die Kosten nicht zuerst auf die Einkommensarmen abgewälzt werden dürfen?
Hier wünschte ich mir ein deutliches Signal, auch aus den Reihen der Bessergestellten. Wir bereiten gerade gemeinsam mit anderen „Starken“ ein solches Signal vor.
Gefährliches Schlingern
Soziale Unwuchten, wie sie derzeit entstehen, bringen zuerst den sozialen Frieden und mit ihm dann die Demokratie gefährlich ins Schlingern. Die populistischen Vereinfacher mit ihren freiheitsfeindlichen und simplen Erklärungsangeboten warten nur darauf.
Es muss uns gelingen, diese Tendenz zur Entsolidarisierung zu stoppen und uns gemeinsam neu auf das über Jahrzehnte bewährte Prinzip des demokratischen Sozialstaats und der offenen Gesellschaft zu verpflichten. Nur dieses Gesellschaftsmodell verspricht allen Bürger:innen gerechte Teilhabe, unabhängig von Geschlecht oder Herkunft.
Nein, das bedeutet nicht Gleichmacherei oder, dass alle gleich viel – oder wenig – besitzen oder verdienen sollten. Das bedeutet vielmehr, dass alle ein gutes Auskommen und gleiche Teilhabechancen haben, für sich und für ihre Kinder.
Die soziale Marktwirtschaft ist dafür ein bewährtes und gut austariertes Instrument, der Markt allein aber ist eben kein Selbstzweck. Wer „das Soziale“ aus der Gleichung streicht, gerät auf die schiefe Bahn eines ungezügelten Kapitalismus, dessen fatale Folgen wir im letzten Jahrzehnt erlebt haben.
Wenn sich das Teilhabeversprechen des Sozialstaats in Krisenzeiten immer wieder nur für die Einkommens- und Leistungsstarken im Land lohnt, wird es wertlos. Und sollten die Schwächeren im Land erleben, dass die viel beschworene Solidargemeinschaft nur für die Anderen gilt, droht unserer Demokratie eine nie dagewesene soziale und politische Zerreißprobe.
Verantwortung der Starken
Deshalb tragen nun besonders die Einkommensstarken in unseren Gemeinwesen Verantwortung. Ihre Systemrelevanz ist kaum zu überschätzen. Denn ihre gelebte Solidarität mit den Einkommensschwachen entfaltet den Rettungsschirm für die Freiheit, in der wir alle gerne leben: Sie macht zusammen mit sozialem Ausgleich das Erfolgsmodell Bundesrepublik Deutschland aus. Starke Schultern können und müssen mehr tragen – dies war immer ein Grundsatz unserer sozialen Marktwirtschaft. Ich möchte darauf setzen, dass das immer noch gilt.
Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Die Folgen seines Krieges gegen die Ukraine erschüttern auch unsere Gesellschaft. Doch diese Strategie darf nicht aufgehen. Wenn wir mit gelebtem Zusammenhalt dagegenhalten, die Stärkeren solidarisch mit den Schwächeren, haben wir beste Erfolgsaussichten, das Modell unserer offenen Gesellschaft auch zukünftig erfolgreich zu verteidigen.
Systemrelevante Nächstenliebe
Die Stabilität unserer demokratischen Gesellschaft, die für eine nachhaltige und ökologische Politik des Respektes, der gegenseitigen Verantwortung, und der Solidarität in einer offenen Gesellschaft steht, braucht jetzt das Engagement aller. Aber in diesen Zeiten braucht sie in besonderer Weise die Kraft, ja, die systemrelevante Nächstenliebe derer, die keine echten Existenzängste haben. Die der Stärkeren.
Vielleicht nutzen Sie in den nächsten Wochen eine Kaffeepause oder eben einen Strandspaziergang, um darüber miteinander ins Gespräch zu kommen, was auch Sie konkret tun könnten – in der Familie, im Freundeskreis, mit Menschen, die ihnen begegnen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben einen schönen Sommer unter Gottes Schutz.