Ein warmer Nachmittag auf dem Wichernhof in Dehmen, einem kleinen Dorf bei Güstrow. Auf meiner Sommerreise besuche ich diese Einrichtung der Eingliederungshilfe in Mecklenburg. Wir stehen auf der Terrasse einer Wohngruppe, in der sehr unterschiedliche Menschen ihr Zuhause haben. Sie alle haben eine schwere geistige Behinderung, viele von ihnen sind darüber hinaus auch körperlich mehr oder weniger stark eingeschränkt.
Die mobileren Bewohner haben uns auf die Terrasse begleitet – einige zurückhaltend, andere werben um Aufmerksamkeit. Eine junge Frau greift sich ohne jede Berührungsangst unsere Hände und bringt sie zum Klatschen. So geht sie auf ihre Gegenüber zu – auf ihre Betreuer, auf die Mitreisenden aus diakonischen Verbänden, auf die Landessozialministerin. Die junge Frau macht keine Unterschiede. Klatschen macht sie glücklich. Nachdem ich mit ihr ein paar Minuten dauergeklascht habe, wendet sie sich dem nächsten Besucher zu und ergreift dessen Handfesseln.
Wir gehen weiter, ich treffe einen älteren Bewohner des Wichernhofs, der uns etwas erzählen will – ich kann nur ahnen, was er meint. Sein Betreuer kann seine Sprache offenbar gut verstehen – dabei hört er nicht nur hin, er liest auch sein Mienenspiel, kann die Gestik und die Körpersprache interpretieren. Dieser Mitarbeiter versteht diesen Mann, weil er ihn bereits seit Jahren gut kennt und gelernt hat, sich in ihn und seine Ausdrucksmöglichkeiten hineinzudenken. Mir erscheint das wie ein kleines Pfingstwunder.
Das Bundesteilhabegesetz bringt große Veränderungen
Am 1. Januar 2020 wird sich in der Behindertenhilfe etwas grundlegend ändern: Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) tritt in Kraft. „Das ist die größte sozialpolitische Reform seit Jahrzehnten“, sagt Mecklenburg-Vorpommerns Landessozialministerin Stefanie Drese. Das BTHG setzt die UN-Behindertenrechtskonvention um. Es beinhaltet einen Paradigmenwechsel – von der fürsorglichen Betreuung hin zur möglichst autonomen Teilhabe der Menschen mit Behinderung. Ein dringend notwendiger Schritt, den wir in der Diakonie von Anfang an unterstützt haben.
Abgestimmt mit unseren Trägern und dem Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe hat die Diakonie Deutschland über Jahre den Gesetzgebungsprozess begleitet. Auf Ebene der Länder investieren derzeit die landeskirchlichen Diakonischen Werke viel Energie in die Aushandlung der Rahmenverträge mit den Bundesländern. Auch dort, wo es anfangs schleppend voranging, scheint das in der gebotenen Frist bis zum Jahreswechsel zu gelingen.
Doch der Stichtag am 1. Januar 2020 ist nur einer von vielen Meilensteinen – die Umsetzung vor Ort folgt dann erst. Viele Betroffene haben bis heute keine Vorstellung, was auf sie zukommt. „Ich habe noch nichts von dem Gesetz gehört“, berichtet uns ein an Epilepsie leidender Mitarbeiter eines Integrationsbetriebes, der in der Güstrower Altstadt als Servicekraft im Restaurant arbeitet. Die künftige Hilfe soll individuell zugeschnitten, in den Sozialraum integriert und bedarfsgerecht sein.
Sicher lässt sich ein solcher individueller Zuschnitt mit dem Kellner des Integrationsrestaurants gut besprechen und rasch klären. Er ist sprach- und durchsetzungsfähig, kann seine Bedürfnisse, Wünsche und Ziele gut klären, um zu einem „Integrierten Teilhabe-Plan“ (ITP) zu kommen.
Wie soll das aber passgenau mit den mehrfach schwerstbehinderten Bewohnern des Wichernhofes gelingen? Wie formuliert die junge Frau, für die das gemeinsame Klatschen Glück bringt, ihre Ziele? Wie der ältere Herr, dessen Kommunikation mit den Außenstehenden von der beeindruckenden „Übersetzungsleistung“ seines langzeiterfahrenen Betreuers abhängt? „Ich habe Angst, dass wir diesen Menschen nicht gerecht werden, das ist in den ITP so nicht abbildbar“, sagt Björn Kozik, der Bereichsleiter Behindertenhilfe der Diakonie Güstrow.
Was kann hier Autonomie bedeuten und wer ist wirklich ein glaubwürdiger Anwalt der Autonomie? Wir müssen aufpassen, dass wir hier – in Zeiten knapper Kassen – nicht leicht zu missbrauchenden ideologischen Konstruktionen aufsitzen, die letztlich zu Qualitätsverlusten und absurden praktischen Umsetzungen oder bürokratischen Hürden führen können.
Die schwierigen Erfahrungen mit einem gigantischen Bürokratieaufwuchs, die viele Mitarbeitende, Klienten und Träger bei der Einführung der Pflegeversicherung gemacht haben, dürfen sich beim Bundesteilhabegesetz nicht wiederholen. Auch damals war vieles gut gemeint, hat in der Praxis aber wenig orientiert und gute Pflege schwieriger gemacht.
84 Menschen mit Behinderung leben zurzeit auf dem Wichernhof in Dehmen bei Güstrow. Gut 30 Bewohner*innen mit weniger schweren Beeinträchtigungen haben den Hof in den vergangenen Jahren in einem sorgfältig geplanten und begleiteten Prozess bereits verlassen und leben weitgehend autonom – allein, mit Assistenz oder in Wohngruppen – in der Stadt. Wunderbar.
Aber in der Einrichtung verbleiben nun nur diejenigen, die den höchsten Bedarf an Pflege und Zuwendung haben. Inklusion befördert neue Formen von Exklusion. Aber Schwerstbehinderte benötigen weiterhin besondere Schutz- und Förderumgebungen, wenn sie wenigstens ein Mindestmaß an Autonomie leben und gestalten können sollen.
Eine verlässliche (und weiterhin teure) Infrastruktur für diese Menschen müssen wir auch im Rahmen des BTHG bieten können: 777 Wohnheime für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung betreibt die Diakonie bundesweit. Ohne sie sähe das Leben vieler Menschen mit schweren Beeinträchtigungen nicht besser aus.