Unerhört! Diese Armen.

„Menschen mit Armutserfahrung sind Expert*innen in eigener Sache. Armut bedeutet politische Ausgrenzung. In den politischen Entscheidungsprozessen spielen unsere durch Armut geprägten Sichtweisen und unsere Lebenserfahrungen keine Rolle. Wir wehren uns gegen alle Formen der Ausgrenzung und fordern das demokratische Recht auf Gehört-Werden, Beteiligung und gesellschaftliche Mitgestaltung ein.“

So beginnt das Papier „Der soziale Notstand ist da. Nicht nur Viren, sondern auch Armut und Ausgrenzung bekämpfen!„. Mit ihm haben sich Menschen mit Armutserfahrungen bereits im Sommer dieses Jahres zu Wort gemeldet. Leider hat ihr Aufruf an Aktualität nichts verloren. Deswegen bekommt er, bekommen sie in diesem Blog eine Bühne.

Armut hat viele Gesichter: Am Mittagstisch der Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof in Berlin. Bild: Diakonie/Hermann Bredehorst

Es geht darum, zuzuhören und ins Handeln zu kommen: Corona und die Folgen vertiefen die soziale Spaltung im Land. Auch auf die neue Bundesregierung warten hier große Herausforderungen. Auch sie tut gut daran, Menschen, die von ihrer Armut sprechen, gut zuzuhören.

Die Wucht der Pandemie

Die Pandemie geht an niemandem spurlos vorbei – aber die armen Menschen trifft sie mit härterer Wucht. Seien es Künstler:innen ohne Engagement, Soloselbständige ohne Aufträge, Alleinerziehende, kinderreiche Familien im Hartz IV-Bezug, Geflüchtete, wohnungslose Menschen, chronisch Kranke und und und… Auch das Sozialsystem war nicht vorbereitet auf eine Krise dieser Art. Weder finanziell, noch strukturell.

Und viele Verantwortungsträger:innen in Politik und Gesellschaft haben keine Routinen, die verlässlich dafür sorgen, bei politischen Entscheidungen das Schicksal armer Menschen im Blick zu behalten. Erst recht nicht in einer Krise:

Obdachlose Menschen die sich zum Beispiel während der ersten Corona-Welle in Freiburg am Fluss waschen mussten, für die der Lockdown ein Lockout wurde, sind nur ein Beispiel für die soziale Kurzsichtigkeit mancher Maßnahmen gegen das Virus. Die Flucht der besser Gestellten in die digitalen Räume, unter Zurücklassung der schlechter Gestellten vor geschlossenen Türen in der analogen Welt, ein anderes.

Die Kompetenzen der Armut

Armut hat immer viele Gesichter, nicht nur in Coronazeiten. Und schon deswegen ist es schwer für arme Menschen mit einer Stimme zu sprechen. Auch deswegen werden sie zu oft nicht gehört und ihre Kompetenzen fließen in die politischen Willensbildungsprozesse kaum ein. Oder nur vermittelt – etwa über Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie einer ist.

Das soll sich ändern. Auch darum gehört es zu den strategischen Zielen von Diakonie Deutschland, Menschen mit Armutserfahrungen in unsere politische Lobbyarbeit einzubinden. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist unser Beteiligungsprojekt für Menschen mit Armutserfahrung, das sie dabei unterstützt, für sich selbst zu sprechen – in der Diakonie wie in Gesellschaft und Politik. In dieser Woche hat das Vernetzungstreffen von Betroffenen in Berlin ausnahmsweise in Präsenz stattgefunden. Ein Anfang ist gemacht.

Reichweite teilen

Ich möchte heute die Reichweite meines Blogs für diese Vernetzungsarbeit zur Verfügung stellen und Auszüge aus dem eingangs schon zitierten Positionspapier dokumentieren: „Der soziale Notstand ist da!“

Es ist umfangreich und sprengt das Format dieses Blogs – darum nur Auszüge. Alle Auslassungen sind mit „(…)“ gekennzeichnet. Und wer möchte, findet unter diesem Link das vollständige Dokument. So nehmen von Armut betroffene Menschen die Corona-Krise wahr. Das sind ihre Vorschläge und Forderungen:

Der soziale Notstand ist da

von Thomas Müller-Risse, Diepholz; Kay Rasch, Freiburg; Helga Röller, Frankfurt am Main; Jürgen Schneider, Dinklage; Michael Stiefel, Löwenberg; Heike Wagner, Berlin Redaktionelle Mitarbeit: Michael David, Petra Zwickert, Diakonie Deutschland

Essensausgabe Notübernachtung
Armut hat viele Gesichter: Essensausgabe in der Notübernachtung für Wohnungslose der Berliner Stadtmission. Bild: Diakonie/Kathrin Harms

(…) „Die Corona-Krise hat dramatische gesellschaftliche Veränderungen zur Folge, soziale Umbrüche und eine Neuorientierung von Kommunikations- und Entscheidungswegen. (…) Wir wollen dafür sorgen, dass in Einkommens- bzw. Konsumarmut Lebende nicht auf ein „Ende von Corona“ warten und erst Jahre später realisieren, dass sie in den Wartehallen dieser Gesellschaft einfach zurückgelassen und vergessen wurden. (…)

1. Ein sozialer Neufanfang ist nötig

Alles verändert sich: Gesellschaft, Arbeit, Bildung, Familien. Alles Soziale verändert sich, wenn wir es verändern – neue soziale Antworten sind nötig. Unterbeschäftigung und Erwerbslosigkeit steigen. Sozial benachteiligte Kinder verlieren – auch im Homeschooling – den Anschluss. (…)

Die Bildungsbenachteiligung von Menschen, die durch Armut in ihren Gestaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt werden, verschärft sich dramatisch. Menschen unter und an der Armutsschwelle spüren die Auswirkungen der Pandemie und der Veränderungen besonders drastisch und stehen so unter starkem Druck. Zusätzlich werden uns auch die klimapolitische Entwicklung und ihre sozialen Auswirkungen beschäftigen.

Die Zunahme des Wohlstandsgefälles muss durch Umverteilung abgebaut werden. Die Corona-Verordnungen sind für die Lebenssituation von in Armut Lebenden blind. (…)

2. Gesellschaft im sozialen Lockdown

(…) Je weniger Möglichkeiten Menschen vor dem Lockdown hatten, desto härter treffen sie die Beschränkungen. (…) Eltern mit vielen Kindern und wenig Geld und kleiner Wohnung; Kinder, denen das Mittagessen in Kita und Schule, Betreuung, Treffpunkte und ruhige Arbeitsorte wie Mediatheken und Bibliotheken fehlen; Allein- und Getrennterziehende, die an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten geraten, gemeinsame Erziehung und den Wechsel zwischen zwei Haushalten zu gewährleisten; Menschen, die digitale Zugangswege nicht nutzen können – sei es aufgrund von Sprachproblemen, fehlender technischer Ausstattung oder schlicht, weil es kaum barrierefreie Zugänge gibt. Menschen, die sich nicht digital beteiligen, stehen unter Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck.

Die Existenzsicherung reicht für den immer höheren Bedarf nicht aus.
Die von der Regierung beschlossenen einmaligen Zusatzzahlungen zum Regelsatz stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten. (…) Wer nicht Online shoppen kann und keine Kreditkarte hat, kann weder wichtige Dinge kaufen, noch bei Teilöffnungen Kultur, Museen oder andere Angebote nutzen. Informelle Hilfelösungen, die auf persönlichen Kontakten beruhen, fallen im Alltag aus. Treffpunkte und Beratungsstellen haben oft geschlossen oder sind nur sehr begrenzt erreichbar. (…).

Wir fordern: Es gibt nicht „die Corona-Maßnahmen“. Kontaktbeschränkungen und Pandemiemaßnahmen müssen differenziert gedacht und verwirklicht werden. Wer digital gut erreichbar ist und sich materiell versorgen kann, kann mehr Beschränkungen kompensieren als Menschen, denen schon lange Geld und Zugangswege fehlten. (…) Generell muss gelten: Je schwerer sich digitale Zugänge und Kontaktbeschränkungen für bestimmte Personengruppen auswirken, desto mehr muss in alternative Zugangsmöglichkeiten investiert werden. Notfallsprechstunden für existenzsichernde Leistungen in den Behörden sind genauso ein Muss wie Orte, an denen sozial ausgegrenzte Kinder mit der notwendigen Unterstützung und technischen Ausstattung lernen können. (…)

Es ist absurd, wenn Schulessen wegfällt, der Betrag dafür nicht ausgezahlt und so getan wird, als könnten Kommunen eine Art Essen auf Rädern für arme Kinder organisieren und finanzieren. Es ist unerträglich, wenn seit über einem Jahr den Menschen das Geld für das Nötigste fehlt, dann aber nur der sehr kleine symbolische Betrag von weniger als 25 Euro im Monat als Corona-Pauschale ausgezahlt wird. Es ist ignorant, wenn viele von Digitalisierung und neuen Kommunikationsmöglichkeiten schwärmen, in Armut Lebende sich aber weder WLAN noch digitale Endgeräte kaufen, geschweige einen Vertrag mit einem Provider finanzieren können. Deshalb muss das Existenzminimum breiter gefasst und neu ermittelt werden. Das, was gesellschaftlich normal ist, muss laut EU-Sozialpakt allen zur Verfügung stehen. (…)

3. Soziale Hilfen müssen immer erreichbar sein

(…) Viele soziale Einrichtungen und offene Angebote stehen als „freiwillige Leistungen“ schon jetzt auf der Streichliste der Kommunen zur Finanzierung ihrer Corona-Kosten. Auch lange bestehende Projekte bekommen keine sichere Finanzierungszusage mehr.

Die Anzahl der zu bearbeitenden Fälle in der Sozial- bzw. Erwerbslosenberatung steigt, die Fälle und Schicksale werden komplizierter. (…) Je schwieriger die Lebenssituation von Menschen ist, desto nötiger ist, sie niedrigschwellig anzubieten.

Auch Helfer*innen ziehen sich im Lockdown zurück. (…) Hilfen werden auch durch staatliche Vorgaben begrenzt. Der Corona-Schutz steht an erster Stelle. An zweiter Stelle müssten aber ausreichende Corona-konforme Alternativen stehen.

Wir fordern: Staatliche und gesellschaftlich finanzierte Stellen, die die Existenz der Menschen sichern sollen, müssen auch und gerade in der Krise da sein. Eine persönliche Erreichbarkeit muss immer gegeben sein. Trotz der Ausnahmesituation darf sich die Erfüllung von Beratungsmöglichkeiten nicht nur auf die am hartnäckigsten Nachfragenden beschränken. Die Form der Hilfeangebote kann sich ändern, aber nicht ihre Erreichbarkeit. (…)

(…) Die soziale Not wird nicht plötzlich enden, wenn alle geimpft sind. (…) Darum muss die Sozialberatung erst recht ausgebaut und sicher finanziert werden. Wer jetzt auf Kosten der Menschen spart, die besonders auf kostenlose kommunale Angebote angewiesen sind, belastet sie doppelt: (…)

4. Existenzängste und Einsamkeit nehmen zu

Wir stellen fest, dass von Armut betroffene Menschen mit zunehmenden Existenzängsten und Vereinsamung zu kämpfen haben. Stark eingeschränkte Sozialkontakte werden durch bürokratische Hürden und digitale Hilflosigkeit der Betroffenen weiter verstärkt. (…)

5. Selbsthilfe und Selbstorganisation auch in der Krise ermöglichen

Wir machen die Erfahrung, dass Strukturen der Partizipation und der Selbstorganisation (…) nur unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten werden können. (…) Möglichkeiten sich zu treffen fallen weg. Auch wenn Treffen mit Abstand möglich wären, sind Räume „sicherheitshalber“ unter Verweis auf digitale Austauschmöglichkeiten geschlossen. (…)

Die Wahrnehmung armutsbetroffener Menschen in der Öffentlichkeit hat sich verändert. Sie kommen in der Öffentlichkeit nicht so vor wie vor der Corona-Krise. Menschen, die schon immer gut in Medienkontakten waren, dominieren die Wahrnehmung, obwohl sie Ausnahmen sind. Die „Anderen“ scheint es nicht mehr zu geben.

(…) Hauptamtliche sind in den Vordergrund getreten und behalten das letzte Wort. Teilhabe und Partizipation entfallen, damit der „Laden“ im Krisenmodus „weiter läuft“. Entscheidungen werden von „Professionellen“ getroffen – auch in Parteien, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden. (…)
Wer sich nicht digital beteiligt, ist unsichtbar. Andere machen „anwaltschaftliche“ Arbeit, übernehmen die Stimme der Betroffenen, die selbst zum Schweigen verurteilt werden. Es müsste Standard sein, aktiv ihre Stimme und Lautstärke zu fördern und sich nicht nur um „die Betroffenen“ zu kümmern.

(…) Die Corona-Pandemie wird genutzt, um altbekannte Forderungen nach Sozialabbau zu erheben und die soziale Ausgrenzung zu verschärfen. (…) Auf der Straße Lebende werden zum „Infektionsherd“ herabgewürdigt. Sozialabbau wird als Lösung präsentiert, um Krisenkosten abzuwälzen, zu begrenzen und die Wirtschaft zu fördern. Migrant*innen werden als Infektionsträger verdächtigt, ohne dass es dafür Belege gibt. (…)

Wir fordern: (…) Persönliche Treffpunkte sind gerade für in Armut und Ausgrenzung Lebende existenziell wichtig. Digitale Angebote können dies nicht ersetzen. Es darf kein „einfach mal digital“ geben. Es müssen immer Lösungen vorgehalten werden, wie alle Menschen sich in Sicherheit begegnen können.

(…) Niemand weiß besser, was Menschen brauchen, als die Menschen selbst. Die Krise ist keine Rechtfertigung dafür, für oder über Menschen mit Armutserfahrung, aber nicht mit ihnen zu sprechen und ihre Interessen ernst zu nehmen.

Nicht jedes Problem ist Corona, nicht jede Lösung die Richtige.
Die Karten müssen auf den Tisch: welche Probleme haben mit Corona zu tun, und welche nicht.

Wir stellen fest: Eine offene politische Debatte darüber, wie ein soziales Deutschland verwirklicht werden kann, ist nötig! Diese Diskussion ist mit den Menschen zu führen – besonders mit denen, denen es unter den jetzigen Bedingungen immer schlechter geht.“

Und hier geht es zum  vollständigen Positionspapier „Der soziale Notstand ist da“