So könnte man diese Tage beschreiben, in denen wir uns gerade befinden, sowohl wenn es nach dem Weltenlauf und wenn es nach dem Lauf des Kirchenjahres geht. Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag liegen hinter uns. Das alte Kirchenjahr ist an sein Ende gekommen. Und in zwei Tagen scheint schon etwas Neues auf: Der Beginn des Kirchenjahres mit dem 1. Advent.
Die Adventszeit ist Corona-resistent. Darauf vertraue ich. Verlässlich speist das Kirchenjahr einen anderen Ton und ein anderes Licht in die Zeit – ganz unabhängig davon, was die Gegenwart im Gepäck hat. Und besonders in der Vorweihnachtszeit leuchtet dieses andere Licht auch im Alltag unserer säkularisierten und gleichzeitig so vielfältig religiösen Gesellschaft umso heller auf.
Gute Nachrichten
Gott will im Dunkeln wohnen. Davon könnten auch die vielen Lichter in Innenstädten und Wohnzimmern erzählen. Wer es leuchten lässt, verweigert sich den länger werdenden Nächten, bringt Licht in unsere Dunkelheiten. Es gibt diesen Trost der Kerzen, einen Trost dieses anderen Lichtes. Und es ist jedem Menschen möglich, dieses Licht zu erleben und erlebbar zu machen. Die Adventszeit bietet da viele Möglichkeiten. Das ist eine sehr gute Nachricht.
Am vergangenen Mittwoch habe ich, wie in jedem Jahr, eine Erinnerung an dieses Licht an Petra Pau, die Vize-Präsidentin des Bundestags, übergeben: den Wichern-Kranz der Diakonie. In diesem Jahr trägt er 27 Lichter – vom 1. Advent bis zum Heiligenabend.
Advent im Bundestag
Coronabedingt fand unsere Übergabe auch in diesem Jahr nicht in großer Runde, sondern nur im kleinsten Kreis statt. Es war schlicht. Kein Kinderchor hat gesungen und für warmherzige Gefühle gesorgt. Aber der Kranz ist doch angekommen und wurde ausdrücklich willkommen geheißen.
Auf der Plenarsaalebene des Reichstagsgebäudes wird er in den kommenden Wochen als stilles Symbol wirken. Im parlamentarischen Alltag, quasi „vom Rand her“, verweist er unaufdringlich auf eine andere Wirklichkeit. Gott will im Dunkeln wohnen. Auch den Menschen, die politisch in der Verantwortung stehen und so oft nicht genügen können, gilt der Trost des Lichtes.
Zeit des Neuanfangs
In der christlichen Tradition ist die Adventszeit eine Zeit des Neuanfangs, des Umdenken-Lernens. Das griechische Wort dafür heißt „Metanoia“ und meint: sich von etwas bewegen zu lassen, mit etwas zu rechnen, das zum Neuanfang und zur Umkehr befähigt.
Das ist der tiefere Sinn der Besinnlichkeit, die viele mit dem Advent verbinden. Besinnung führt nach innen. Fragen können sein: Was hindert mich daran, neu anzufangen? Was brauche ich, um mich verabschieden zu können? Denn Neuanfänge setzen ja Abschiede voraus. Und Abschiede können sehr schmerzhaft sein.
Uns allen wird aktuell eine Vielzahl von Abschieden zugemutet. Wir müssen Gewohnheiten hinter uns lassen, Gewissheiten – und viel zu viele geliebte Menschen. Die Trauer um nun über 100.000 Corona-Tote allein in Deutschland: Wie viel Leid wohnt derzeit unter deutschen Dächern, wie viel Verunsicherung und Angst.
Notwendige Abschiede
Dazu kommen nahezu täglich neue Anforderungen: Ständig müssen wir dazu lernen, vermeintlich sicher Gewusstes verlernen und schon wieder neu lernen. Ob als Bürger:innen, als Verantwortungsträger:innen in Politik und Wirtschaft, in Kultur, Kirche, Krankenhaus, Schule oder wo auch immer. Vieles in unserer Welt ist in Bewegung.
Einige Hellsichtige sagen, es gehe in unserer Zeit sehr grundsätzlich um notwendige Abschiede. Es gäbe mancherlei, womit wir aufhören müssten. Die westlichen Gesellschaften suchen nach einer neuen Erzählung für eine freie und gerechte, solidarische und nachhaltige Gesellschaft der Vielfältigen in einer weltweiten Klimakrise.
Ur-Erzählung vom Neuanfang
Christen entzünden in mitten von all dem die Kerzen des Adventskranzes. Übermorgen die zweite große Kerze. Und dieses „Immer- wieder-Lichter-Entzünden“ im Advent erinnert uns mit verlässlicher Regelmäßigkeit, alle Jahre wieder, an die Geburt eines Kindes in einem zugigen Verschlag in einem scheinbar gottvergessenen Allerweltswinkel der Weltgeschichte.
Es ist eine der christlichen Ur-Erzählungen vom Neuanfang: Die Geburt des menschgewordenen Gottes genau dort, am Rande der Welt, setzt einen leicht zu übersehenden, sehr verletzlichen, aber überaus wirksamem Neuanfang. Ein Mensch erblickt das Licht der Welt, der andere Menschen ins rechte Licht rückt, die sonst eher ungesehen oder unerhört bleiben.
Diese herausfordernde Aufmerksamkeit für die Ungesehenen und Unerhörten wird das Erwachsenenleben dieses neugeborenen Kindes prägen. „Licht der Welt“, wird man Jesus Christus darum später nennen. Er lehrt uns eine neue Sicht: Rechnet nicht mit Wundern im Rampenlicht. Wunder geschehen – „still und unerkannt“ – an und von den Rändern her.
Wunder vom Rand
„Vom Rand her“ improvisierte auch das Team um Johann Hinrich Wichern 1839 den Ur-Adventskranz. Aus einem ausrangierten Wagenrad, mit Tannengrün und Kerzen. Jeden Tag sollte es etwas heller werden für die Straßenkinder, die im Rauhen Haus zu Hamburg eine Heimat gefunden hatten.
Sie verschwendeten, so kann man es auch sehen, teure Leuchtmittel für eine symbolische Handlung an einem Ort, wo niemand sonst es sehen kann. Gott will im Dunkeln wohnen.
Diakonie Deutschland hat sich von Wicherns Kerzen inspirieren lassen: In diesem Jahr gibt es auf Instagram und Facebook einen Wichernkranz-Adventskalender, der sich aus Selfies aus dem großen Team Diakonie zusammensetzt:
Wichernkranz-Adventskalender
Ehrenamtliche und Hauptamtliche entzünden ihre Kerze. Jeden Tag ein Licht, irgendwo in Deutschland: vom Vorstand bis zur Servicekraft, von der Herdenmanagerin bis zum IT-Spezialisten, bei der Telefonseelsorge und der Bahnhofsmission, im Krankenhaus und in Beratungsstellen, bei Flut- und Kältehilfe, im Hospiz, in der Jugendhilfe und im inklusiven Socialmediateam.
Unterschiedliche Gesichter und Menschen, unterschiedliche Talente und Professionalitäten. Kleinere und größere Lichter, die an ihrem Platz „leuchten“, und jeden Tag und jede Nacht daran mitwirken, dass es heller wird in unserem Land. Eine Lichterkette der Aufmerksamkeit für andere, ein leuchtendes Netz der Menschenfreundlichkeit, an dem alle mitknüpfen können, an dem wir uns freuen dürfen. Auch in diesem zweiten anstrengenden Corona-Winter.
Segen und Licht
Aber: Die Adventszeit ist Corona-resistent. Gott will im Dunkeln wohnen. Nur eine Kerze anzuzünden, kann mitunter helfen, sich daran erinnern zu lassen. Ich wünsche Ihnen allen eine gesegnete Adventszeit und Menschen, die Sie ins Licht setzen.