Sonntag feiert die Christenheit Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, der gemeinschaftsstiftenden Kraft von oben. Wie sehr wir diese Inspiration brauchen in Zeiten, in denen viele von Spaltungstendenzen und zunehmenden Ungleichheiten in den westlichen Gesellschaften sprechen!
Auch die Demokratie braucht pfingstliche Orte. Kleine und große Spielplätze des Denkens und Handelns, die den Horizont erweitern. Orte, an denen sich die Gemeinschaft der Vielfältigen immer wieder neu finden und erfinden kann, wo fremde und weniger fremde Menschen einander begegnen und entdecken, was sie bei aller Unterschiedlichkeit verbindet.
Leider – oder Gottseidank – kann man pfingstliche Orte nicht erzwingen, aber man kann versuchen, inspirationsfördernde Rahmenbedingungen zu schaffen. „Pfingstliche Orte“ weiterlesen
Gemeinsinn versteht sich im Pluralismus keinesfalls von selbst. Im Gegenteil: Es ist anspruchsvoll „wir“ zu sagen, für einander einzustehen, faire Zusammengehörigkeit zu leben, besonders wenn die Vorstellungen von einem guten Leben weit auseinanderliegen. Auch in unseren freien Gesellschaften, die den unterschiedlichen Menschen Gleichheit grundsätzlich zusichern, ist das Wir-Gefühl fragil.
Das große Zukunfts- und Querschnittsthema „Gemeinsinn“ wird uns auch beim jährlichen Wichern-Empfang von Diakonie Deutschland in der kommenden Woche beschäftigen: „Das neue Wir. Gemeinsinn im 21. Jahrhundert“ haben wir ihn überschrieben. Nach zwei Jahren „Corona-Pause“ können wir Vertreter- und Freund:innen unseres weitgespannten Netzwerks erstmals wieder „richtig“ nach Berlin einladen. Das ist wirklich ein Grund zur Freude.
Ja zur Vielfalt
Wenn im Kontext der Diakonie über Gemeinsinn nachgedacht wird, wirkt zumindest im Hintergrund das anspruchsvolle biblische Bild von Gemeinschaft als „Leib Christi„. Eine organische Idee von Vielfalt und Einheit: die unterschiedlichen Körperteile haben verschiedene Aufgaben und sollen doch „eins“ sein. Christus ist das Haupt.
Grundsätzlich gilt – in und außerhalb christlicher Überzeugungen: Wir brauchen in unseren sich grundsätzlich und schnell wandelnden Gemeinwesen ein mehrheitliches „Ja“ zur Vielfalt, um sie miteinander lebenswert so gestalten zu können, dass alle ihren Platz finden.
Dazu gehört auch die Frage, wer eigentlich gemeint ist, wenn wir „Wir“ sagen? Wer gehört dazu – und wer nicht? Wen schließen wir durch unsere Sichtweisen, unsere Art zu sprechen und zu handeln von vornherein aus? Haben wir aus Corona und der Impfkampagne etwas gelernt?
Wer ist „Wir“?
In diakonischer Perspektive gehören alle Generationen, Kinder und Alte zum neuen Wir. Begabte Menschen, mit und ohne Behinderung, mit und ohne Humor und besonders verletzliche Menschen in Notlagen aller Art. Das neue Wir hat viele Hautfarben. Es gehören Alteingesessene und Neuankömmlinge (m/w/d) dazu. Mit und ohne Kreuz, Kippa, Kopftuch oder Turban, vermögend oder verarmt, hoffnungsvoll oder verzweifelt.
Haben wir jemanden vergessen? Was ist mit den Tieren? Hat die Natur und haben nachfolgende Generationen ein Stimmrecht in unserem neuen Wir? Wie komplex und zugleich einladend kann oder muss dieses neues Wir sein, um den Herausforderungen der Zeit gerecht werden zu können? Das gilt es zu klären, nicht nur in unserem Land.
Und die Spielregeln?
Und wenn wir geklärt haben, wer dazugehören soll, wer darf aushandeln, nach welchen „Spielregeln“ wir miteinander umgehen wollen? Was verbindet uns und was soll für alle als verbindlich gelten? Wer diese Fragen stellt und wie diese Fragen von wem beantwortet werden, wer sie beantworten darf, das entscheidet über den gesellschaftlichen Frieden und die im Alltag gefühlte Zugehörigkeit und Teilhabe.
Gerade unter den Bedingungen des globalen Klimawandels, sind diese Fragen neu zu verhandeln. Unser Leben in Deutschland wird (und muss) ein anderes werden: Corona, Krieg in Europa, die globalen Klimaverschiebungen sind schwer zu lesende Wegweiser in eine ungewisse Zukunft. „Zeitenwende“ beschreibt die Situation zutreffend.
Wir suchen nach einer neuen glaubwürdigen und nachhaltigen Erzählung für die freiheitlichen Demokratien und unsere immer diverser werdende Gesellschaft in Deutschland. Und es gilt die Einsicht von Johannes Rau zu beachten, dass die Kommune, die konkrete Nachbarschaft, der Ernstfall der Demokratie und für sozialen Zusammenhalt ist.
Räume der Gewalt
Homogenitätsphantasien sind Gift für ein Wir in vielfältigen Gemeinwesen. Wo sie leiten, stirbt die Vielfalt, gedeihen unversöhnliche Parallelwelten. Menschen, die nicht der gesetzten „Norm“ entsprechen, erleben Ausgrenzung und Diskriminierung. Wo Austausch auf Augenhöhe und Teilhabe nur noch für ausgewählte Gruppierungen der Ähnlichen möglich ist, drohen Gesellschaften zu zerfallen. Es entstehen Räume der Gewalt.
Die zunehmenden totalitären Systeme rund um den Globus geben hier ein abschreckendes Beispiel; aber auch in unseren Städten und Dörfern ist das Leben in Vielfalt alles andere als selbstverständlich.
Und wir wissen aus eigenen Erfahrungen: Eine nicht gestaltete, schlecht moderierte Vielfalt, die sich keine Regeln gibt, kann genauso zu einem Gift für die Gemeinwesen werden. In Stadtvierteln oder ländlichen Regionen, die mit der zunehmenden Heterogenität ihrer Menschen sich selbst überlassen bleiben, entsteht nicht einfach von selbst ein friedliches Miteinander.
Kultur der Empathie
Frieden ist immer die Frucht einer gemeinsamen kulturellen Anstrengung, die süße Frucht von anstrengenden fairen Aushandlungsprozessen. Eine Kultur der Empathie und des offenen Miteinanders war nie ein Selbstläufer.
Die bunte Vielfalt der Lebensformen, der Lebensgeschichten und unterschiedlichen Vorstellungen von gelingendem Leben kann sehr herausfordernd sein. Zumal, wenn das, was alle brauchen, knapp wird: Arbeit, Essen, Wohnraum, Stille. – Ein Wir fällt auch im Pluralismus nicht vom Himmel, es kann, es muss gewollt und gestaltet werden.
Wo das nicht geschieht, wird es schnell konfliktträchtig. Und es ist verständlich, wenn Menschen sich dann hinter ihrer Haustür ins Privatleben zurückziehen und versuchen die sie irritierenden Gegensätze und Unterschiedlichkeiten auszublenden.
Rückzug und Aggression
Viele leben nach der Devise „My home is my castle“ in ihrer eigenen Welt: Wenigstens im eigenen Kleingarten bestimme ich die Regeln. Auch die digitale Blase kann zur Festung werden. Andere wehren sich laut und gewalttätig gegen alles, was der eigenen Definition von Normalität nicht entspricht.
Die französische Präsidentschaftskandidatin besteht mit viel Zustimmung aus der Bevölkerung auf einem generellen Kopftuchverbot in Frankreich. Was für ein fatales und aggressives Fanal in einem Land mit einer großen muslimischen Minderheit.
Der Rückzug wie die Aggression – beide zerstören über kurz oder lang die vitalen Kräfte einer starken Zivilgesellschaft, die wir angesichts der großen Herausforderungen so dringend brauchen. Eine älter und zugleich vielfältiger werdende Gesellschaft wird beispielsweise die Pflege und Begleitung der Hochaltrigen in der Nachbarschaft ohne bürgerschaftliches Engagement nicht ermöglichen können. Wir alle sind letztlich auf soziale Gegenseitigkeit und Empathie angewiesen.
Das Wir der Vielfalt
Wer ein neues Wir der Vielfalt formen will, braucht einladende und offene Aushandlungsräume und -formate, in denen gemeinsame Interessen formuliert werden können. Es braucht eben nicht nur Einkaufszentren, sondern konkrete und attraktive Orte der Begegnung, an denen konkrete Projekte des Miteinanders, Prozesse der Entscheidungsfindung und kluge Moderation eingeübt werden können.
Jedes gelingende Quartiersmanagement, jede vitale Volkshochschule und mancher Fußballverein sind wunderbare Beispiele, wie gut das gelingen kann. Und hier könnten auch Kirchengemeinden und diakonische Einrichtung gemeinsam mit den anderen Gestalterinnen und Gestaltern eine wichtige Rolle spielen. Wie? Darüber wollen wir – nicht nur – beim diesjährigen Wichern-Empfang neu ins Gespräch kommen.
Nächstenliebe einspeisen
Aus diakonischer Perspektive gesagt: Wir wollen lernen und üben unsere menschlichen und organisatorischen Kompetenzen und Sensibilitäten in Sachen Nächstenliebe und gelingendem Miteinander in einer inklusiven und nachhaltigen Gesellschaft, noch wirkungsvoller in unsere Gemeinwesen einzuspeisen. Das könnte der entscheidende Gesellschaftsdienst von Kirche und Diakonie im 21. Jahrhundert werden.
Heute jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau, und ich denke an eine Weisheitsgeschichte des chassidischen Judentums: „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragte einmal ein Rabbi seine Schüler. „Wann endet die Nacht?“ weiterlesen
30 Jahre Deutsche Einheit. Morgen werde ich beim diesjährigen Festakt in Potsdam mitfeiern können. Und wie in jedem Jahr werden auch persönliche Erinnerungen an diese Zeit in meinem Leben wach. Es wächst eben nicht von selbst zusammen, was zusammengehört, wie Willy Brandt es 1989 in Berlin für die Geschichtsbücher formuliert hat. „Einheit in Vielfalt“ weiterlesen
„Wie kann die Diakonie im Markt der sozialen Dienstleister erkennbar der evangelische Wohlfahrtsverband bleiben? Wie kann sie – um es mit den Worten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu sagen – ihr ‚Ethos der Organisation‘ wahren? Oder ist sie, wie es der Bonner Sozialethiker und evangelische Theologe Hartmut Kress in der Aprilausgabe der Zeitschrift ‚zeitzeichen‘ schrieb, ‚faktisch ein normaler Arbeitgeber wie andere‘? Die Antwort heißt: Nein, denn dann bräuchte es die Diakonie nicht mehr.“ „Freiräume erhalten“ weiterlesen
Pfingsten feiert die Christenheit ein großartiges Konzept von Gemeinschaft! Kein populistisch hingeklotztes Wir, das bestimmte Menschen ein- und andere ausschließt! Kein „christliches Abendland“ als kultureller Kampfbegriff! Kulturelle Kampfbegriffe und Pfingsten passen nicht zusammen.
Denn Pfingsten feiert die Christenheit eine Gemeinschaft, die Vereinzelung überwindet, Individualität schützt und in der Diversität kein Hinderungsgrund für Zugehörigkeit ist. „Pfingsten und die Offene Gesellschaft“ weiterlesen
Am Sonntag, den 17. Juni 2018 spielt die deutsche Nationalmannschaft in der Fußballweltmeisterschaft gegen Mexiko, der Aufstand vom 17. Juni 1953 jährt sich zum 65. Mal, und die muslimische Welt feiert das Ende der Fastenzeit. Und am Tag vor diesem Sonntag, also am Samstag, den 16. Juni, begehen wir den zweiten Tag der Offenen Gesellschaft. Letzteres ist mir an diesem Wochenende am Wichtigsten. Bitte vormerken!
Ich wünsche mir, dass wir auch in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen an diesem Tag aktiv werden und die unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Tischen unkompliziert zusammenbringen: zum Essen, zum Reden und Kennenlernen, zum lebendigen Austausch über das Land, in dem wir gemeinsam leben. „Raus aus der Filterblase“ weiterlesen
Das Motto der interkulturellen Woche „Vielfalt verbindet“, die gerade bundesweit von den großen Kirchen begangen wird, irritiert. Klingt zwar gut, aber jedes Kind weiß, dass es nicht stimmt: Unterschiede verbinden nicht, Unterschiede trennen. Und Vielfalt kann schön sein, inspirierend, aufregend, aber sie verbindet nicht.
Dazu muss man nicht einmal gesellschaftspolitisch werden: Eine beliebige Fußgängerzone in einer größeren Stadt oder das Oktoberfest reichen, um das Gegenteil zu erleben. „Vielfalt verwirrt, Vision verbindet“ weiterlesen