Nach knapp zehn Jahren als Präsident der Diakonie Deutschland verabschiede ich mich in diesen Tagen in den Ruhestand. Mit dem neuen Jahr beginnt für mich persönlich eine neue Zeitrechnung.
In einem berührenden Gottesdienst am vergangenen Mittwoch in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin habe ich das Amtskreuz des Diakoniepräsidenten zurück auf den Altar gelegt. Es ist gut, dass wir in unserer Kirche Verantwortung und Mandate immer nur auf Zeit vergeben, dass wir Anfang und Ende unseres Dienstes unter Gottes Wort stellen und seinen Segen dafür erbitten.
Glauben Sie noch an Wunder? Gehört die Erfahrung von Wundern, von völlig unerwarteten Ereignissen und Entwicklungen, die sich menschlicher Fähigkeit und menschlichem Ermessen entziehen, zu Ihrem Leben? Und zu Ihrem Glauben?
Erzählungen von Wundern gehören zum Geschichtenbestand der Bibel. Zu den im Wortsinn wunderbaren Erfahrungen, die Menschen nach christlicher und jüdischer Überlieferung mit Gott gemacht haben und mit Gott machen.
So könnte man diese Tage beschreiben, in denen wir uns gerade befinden, sowohl wenn es nach dem Weltenlauf und wenn es nach dem Lauf des Kirchenjahres geht. Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag liegen hinter uns. Das alte Kirchenjahr ist an sein Ende gekommen. Und in zwei Tagen scheint schon etwas Neues auf: Der Beginn des Kirchenjahres mit dem 1. Advent.
Heute geht es für mich nach Leipzig. Mit dem Zukunftskongress Vision 2048 schließen wir unser Jubiläumsjahr ab: 175 Jahre Diakonie, #ausLiebe. Wobei es uns allerdings im Wortsinn gerade nicht ums „Abschließen“ geht. Im Gegenteil: Es geht ums Aufschließen, darum die Tür in die Zukunft aufzustoßen.
Das Schweigen brechen, die eigenen leidvollen Erfahrungen teilen – Was das bedeutet und welchen Weg Betroffene dafür zurücklegen müssen, sehen wir aktuell sehr eindrücklich in der Dokumentation „Glaubt mir! Missbrauch in der Therapie“ in der Serie 37 Grad Leben im ZDF.
Artikel 110 unseres Grundgesetzes legt fest: Der Deutsche Bundestag hat das Budgetrecht. Es wird auch das „Königsrecht“ des Parlaments genannt. Der Bundestag beschließt den Haushaltsplan des Bundes und bestimmt, wie viel Geld wofür ausgegeben wird. Ich hoffe, die Bundestagsabgeordneten machen in den laufenden Haushaltsberatungen von diesem Recht umfassend Gebrauch, denn der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist für die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege und damit auch für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land katastrophal.
Die Bundesregierung plant im Bundeshaushalt 2024 drastische Kürzungen um rund 25 Prozent der Leistungen der Freien Wohlfahrt. Das nehmen wir nicht hin und protestieren dagegen auf allen Kanälen: in politischen Gesprächen, in der Öffentlichkeitsarbeit und in den sozialen Medien, als Diakonie und in Bündnissen mit anderen. Für den 8. November hatte die Diakonie deshalb mit den anderen großen Wohlfahrtsverbänden zu einer Kundgebung vor dem Reichstag in Berlin aufgerufen. Unsere gemeinsame, zentrale Forderung: #SozialkürzungenStoppen! Alle Präsidenten*innen und Vorsitzenden von Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutschem Roten Kreuz, dem Paritätischem, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und der Diakonie haben mit demonstriert. Soweit ich mich erinnere, gab es das in der Wohlfahrtspflege noch nie, zumindest nicht in meiner zehnjährigen Präsidentschaft. Aber es geht auch um viel: um den Erhalt unseres Sozialstaates, so wie wir ihn kennen. Nicht nur der gemeinsame Protest der sechs Spitzenverbände ist historisch, auch die geplanten Kürzungen im Bundeshaushalt sind es. Denn diese werden gerade die Menschen direkt treffen, die auf die Unterstützung der Solidargemeinschaft angewiesen sind.
In der Krise klug investieren statt kürzen
Unser Land, genauso wie Europa insgesamt befindet sich auf vielen wirtschaftlichen und sozialen Feldern in einem tiefgreifenden Wandel. Zahlreiche Krisen verstärken den Druck zusätzlich. Die Folgen der Covid-19-Pandemie sind kaum überwunden. Der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die größte Fluchtbewegung in Europa nach dem 2. Weltkrieg ausgelöst. Er führte auch zu dramatisch steigenden Energiekosten und einer inflationären Preisentwicklung, die einkommensarme Menschen sehr hart trifft. Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt zu. Und der Klimawandel spitzt sich zu und erfordert endlich weitreichende und kohärente Maßnahmen. Die Bundesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag mutige Schritte für eine nachhaltige und sozial gerechte Gesellschaft beschrieben. Wir erleben jetzt eine fatale Vollbremsung: Für kurzfristige Sparerfolge nimmt der Bund weitaus höhere Folgekosten in Kauf. Dabei wären kluge Investitionen in einen chancenorientierten Sozialstaat mittel- und langfristig das bessere Sparkonzept. Denn sie aktivieren wirtschaftliche Wachstumskräfte und verhindern weitaus höhere Reparaturkosten.
In die Jugend investieren
Es ist widersinnig, ein Drittel der Mittel für die Freiwilligendienste zu streichen. Die Förderung des Freiwilligen Sozialen Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes soll um insgesamt 78 Millionen Euro im Jahr 2024 und um weitere 35 Millionen Euro im Jahr 2025 gekürzt werden. Damit ist jede vierte Einsatzstelle gefährdet. Der Beitrag der Freiwilligendienste für soziales Engagement, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Orientierung junger Menschen ist völlig unbestritten. Viele ehemalige Freiwillige ergreifen nach ihrem Dienst einen sozialen Beruf; das mildert den Fachkräftemangel. Wie kann man auf die Idee kommen, hier zu kürzen? Zumal es sich gemessen an den geplanten Gesamtausgaben des Bundes von gut 440 Milliarden Euro um eine sehr überschaubare Summe handelt.
Die Kindergrundsicherung kommt, aber leider halbherzig. In Deutschland ist knapp jedes vierte Kind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das können wir nicht hinnehmen. Diesen Kindern gerechte Chancen auf eine gesunde Entwicklung und die Entfaltung ihrer Talente zu geben, ist eine Verpflichtung unseres Sozialstaates und auch eine ökonomisch kluge Politik. Denn gut ausgebildete, selbstbewusste Kinder haben deutlich bessere Chancen, sich ein selbstständiges Leben mit höheren Einkommen aufzubauen. Dass der Finanzminister auch mit dem Slogan „Chancen schaffen“ für seinen Etatentwurf wirbt, ist ein Tiefschlag für alle, die nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren werden.
Integration ist ein Marathonlauf
Fatal sind auch die Haushaltspläne in der Integrationspolitik. Dass ausgerechnet jetzt die Mittel für die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer um ca. 30 Prozent gekürzt werden, ist angesichts steigender Flüchtlingszahlen nicht erklärbar. Integration ist ein Marathonlauf, der entsprechend finanziert werden muss. Aber am Ende gibt es etwas zu gewinnen: Wer gut integriert arbeitet, bereichert unsere Gesellschaft in vielfacher Hinsicht und hilft dabei, die Sozialsysteme zu stabilisieren. Diese Investition zu unterlassen, wird sich mit weitaus höheren Folgekosten rächen – der Finanzminister verschließt davor die Augen.
Wer soll das bezahlen?
Ich finde diesen Satz falsch. Er suggeriert, wir könnten auf Investitionen in die Zukunft verzichten. Das würde aber uns und die Generation nach uns teuer zu stehen kommen. Wie wir zum Beispiel an der Kindergrundsicherung gezeigt haben. Gerade in Zeiten multipler Krisen ist es unerlässlich, soziale Stabilität nachhaltig zu fördern und zu finanzieren. Wer in den dramatischen Fach- und Arbeitskräftemangel in der Sozialwirtschaft stattdessen noch zusätzlich hineinspart, gefährdet gewachsene Unterstützungsangebote. Dies können sich Bund und Länder mittel- und langfristig nicht leisten – und erst recht nicht die Menschen, die auf einen aktiven Sozialstaat als Partner angewiesen sind, der ihnen Zukunfts- und Arbeitsperspektiven eröffnet. Die Schuldenbremse darf nicht zu einer Bremse für die dringend notwendigen Investitionen in die soziale Infrastruktur werden. Wir brauchen Investitionen in Bildung und Betreuung, in soziale Arbeit, in die Pflege alter Menschen, in die Integration von Zuwandernden, in bezahlbaren Wohnraum – kurz gesagt in den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Schuldenbremse zumindest temporär auszusetzen, ist daher richtig. Ich appelliere an die Mitglieder des Deutschen Bundestages: Sie dürfen diesen Haushalt so nicht genehmigen. Die Rechnung für heutige politische Fehlentscheidungen werden wir morgen alle zu begleichen haben. Wer heute kürzt, zahlt morgen drauf!
„Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragt ein Rabbi seinen Schüler, erzählt eine chassidische Geschichte. Die Antwort: „Es ist dann, wenn du ins Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist noch Nacht bei uns.“
Seit meiner Teilnahme bei der eindrucksvollen Kundgebung „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl“ am vergangenen Sonntag denke ich über die verbindende Kraft der Barmherzigkeit nach. Genauer, seit Rabbiner Yitshak Ehrenberg nach einer Schweigeminute für die Opfer des Massakers der Hamas einen Psalm betete, ein Kaddisch sang, ein traditionelles Gebet für die vielen Toten, und über die drei Bedeutungsebenen des Wortes Schalom zu uns sprach.
Wir sehen uns am Sonntag, 14 Uhr, am Brandenburger Tor zur Demo. Um ein klares Zeichen der Solidarität zu setzen. Mit den Menschen in Israel, die durch den terroristischen Angriff der Hamas, Familienangehörige, Nachbarn und Freunde verloren haben und um ihre als Geiseln verschleppten Angehörigen bangen. Mit den jüdischen Geschwistern bei uns in Deutschland, die mit wachsender Angst und Sorge mit ansehen, wie der Antisemitismus sich lautstark auch auf unseren Straßen Bahn bricht. „Solidarität und Mitgefühl“ weiterlesen
Kurz nach dem Beginn der Parlamentsferien haben nun auch die Sommerferien in Berlin begonnen. Die Stadt verändert dann jedes Jahr schlagartig ihr Gesicht, nach dichten Wochen voller Debatten, letzten Abstimmungen, Sommerfesten und Empfängen kommen alle diese Aktivitäten, die Beratungen und Entscheidungen im politischen Berlin an ihr vorläufiges Ende und eine besondere sommerliche Ruhe legt sich über die Stadt mit deutlich leereren Straßen und S-Bahnen. Ich habe mich in der vergangenen Woche noch sehr darüber gefreut, dass der Deutsche Bundestag den Weg für eine wirksame Suizid-Prävention frei gemacht hat. Das ist genau das, was wir zunächst brauchen, mit vielen Fachgesellschaften haben wir uns wieder und wieder für den dringend notwendigen Ausbau der Prävention und der palliativen Versorgung eingesetzt. „„Geh aus, mein Herz, und suche Freud““ weiterlesen
Halbzeit für die Agenda2030. Im Jahr 2015 hatte sich die Weltgemeinschaft auf eine ambitionierte Transformationsagenda mit klar formulierten Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) geeinigt. Siebeneinhalb Jahre später fällt die Zwischenbilanz ernüchternd aus: „Wir müssen reden!“ weiterlesen